Gastkommentar Wir dürfen Europas Industrie beim Thema Klimaschutz nicht überfordern

Wolfgang Große Entrup ist Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie.
Von A wie Ausbau der Erneuerbaren bis Z wie Zertifikatehandel: Die EU-Kommission buchstabiert mit ihrem Klimaschutzpaket Fit-for-55 sämtliche Handlungsfelder durch, die dem Ziel dienen sollen, bis zum Jahr 2030 die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent zu senken. In den 31 Jahren seit 1990 wurde der CO2-Ausstoß in der Europäischen Union übrigens um 24 Prozent verringert.
Nun müssen es weitere 30 Prozent in nur neun Jahren sein. Das Ganze muss also viermal so schnell gehen. Das ist umso ambitionierter, als die Industrie viele vergleichsweise leicht umsetzbare Maßnahmen zur Emissionssenkung bereits realisiert hat. Keine Frage: Die EU-Kommission sieht sich getrieben, die träge Masse der zwar klimaschutzbereiten, aber noch nicht überall klimaschutzfitten EU in die richtige Richtung zu lenken.
Dabei erscheint es in der Kürze der Zeit fast unausweichlich, dass die Einzelteile des Fit-for-55-Pakets nicht mehr richtig aufeinander abgestimmt werden konnten. Im schlimmsten Fall bewegen wir uns nun im Eiltempo in den kommenden neun Jahren auf das Minderungsziel zu – um dann auf halber Strecke zu merken, dass beispielsweise der praktische Ausbau der erneuerbaren Energien mit den theoretischen Vorgaben nicht Schritt halten kann.
Ein Knackpunkt für die EU-Kommission ist die Frage: Welcher Sektor muss wie viel leisten?
Bislang war es gute Tradition, die Lasten aufzuteilen: Höhere Vorgaben musste bislang stets der EU-Emissionshandel (ETS) für Energiewirtschaft und Industrie erfüllen. Er garantiert durch eine festgelegte Menge von CO2-Zertifikaten, dass die definierten Ziele erreicht werden. In den ausschließlich von den Mitgliedstaaten geregelten Sektoren der „geteilten Lasten“ wie Verkehr und Gebäude ist bislang hingegen nicht gesichert, dass die Ziele realisiert werden.
Energieintensive Branchen wie die chemisch-pharmazeutische Industrie gehören größtenteils dem ETS an, der sein Klimaziel bis 2020 sogar übererfüllt hat. Das Instrument, von Kritikern lange als wirkungslos bezeichnet, gilt inzwischen als so erfolgreich, dass es auf andere Bereiche ausgedehnt werden soll.
Kein „Emissionshandel für alle“
Deutsche Autofahrer und Mieter, die sich erst noch an höhere CO2-Preise gewöhnen müssen, könnten es daher mittelfristig ebenfalls mit einem Emissionshandelssystem aus Brüssel zu tun bekommen. So sollen die Nachzügler Verkehr und Gebäudesektor beim Klimaschutz endlich Tempo aufnehmen.
Glücklicherweise vermeidet es die EU-Kommission vorerst, einen „Emissionshandel für alle“ zu schaffen. Denn Verkehr und Gebäude haben im heutigen Handelssystem nichts verloren, weil bei ihnen viel höhere CO2-Vermeidungskosten anfallen als in der Industrie.
Eine Zusammenlegung hätte bedeutet, dass die Klimakosten für energieintensive Anlagen so stark steigen würden, dass am Ende nur noch ihre Stilllegung rentabel wäre. Dieses Szenario konnte bislang abgewendet werden.
Aber auch ohne das Damoklesschwert des „Emissionshandels für alle“ drohen Branchen wie der Chemie ernste Folgen aus dem Klimapaket: So soll der Emissionshandelssektor seinen Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um 60 bis 65 Prozent gegenüber dem Jahr 2005 verringern. Ein Ziel, das sich bis heute keine andere Industrieregion der Welt auch nur annähernd gesetzt hat.
Denn außerhalb der Europäischen Union ist man viel zurückhaltender: Die USA und China haben zwar ebenfalls die Klimaschutzfahne gehisst – vermeiden gleichzeitig aber scharfe Zielvorgaben für ihre Industrie. So verlieren hiesige Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber ihren außereuropäischen Konkurrenten.
Grenzausgleich wird nicht funktionieren
Dieses Manko muss die EU ausgleichen. Bislang ist das gelungen, weil die Industrie kostenlose CO2-Zertifikate und eine Kompensation für steigende Strompreise erhielt. Diese Instrumente funktionieren und müssten eigentlich ausgebaut werden. Stattdessen rückt die EU-Kommission von ihnen ab.
Als Alternative hat sie die schon mehrmals verworfene Idee eines Grenzausgleichs wieder aus der Schublade geholt: Importeure von betroffenen Produkten müssten bei der Einfuhr in die Europäische Union neuartige Zertifikate kaufen. Im Gegenzug sollen Anlagen in der Union nach und nach auf Entlastungen wie kostenlose Zertifikate verzichten.
Die Frage, ob Grenzausgleichmaßnahmen kompatibel mit den Regeln der Welthandelsorganisation sind, können derzeit selbst Fachleute nicht beantworten. Das ist auch letztlich unerheblich – denn unsere wichtigsten Handelspartner werden mit Sicherheit gegen Grenzausgleichsmaßnahmen zu Felde ziehen, beispielsweise mit dem Vorwurf des Protektionismus.
Offen ist auch, wie sich ein Grenzausgleich auf die Industrie insgesamt auswirken würde, da nur einzelne Grundstoffe erfasst werden können, nicht aber die dahinterliegenden Wertschöpfungsketten. Dadurch drohen höhere Kosten für die exportorientierte deutsche Chemie, zumal ein Ausgleich für Exporteure bislang nicht vorgesehen ist. Eine andere Frage ist, ob wir die Gesamtfolgen dieses „Fitness-Pakets“ überhaupt vorhersehen können.
Echte Folgenabschätzung ist Fehlanzeige
Ich bezweifle das. Eine echte Folgenabschätzung hat auch die EU-Kommission nur für einzelne Teile in Auftrag gegeben, nicht aber für das gesamte „Fit-for-55“-Paket. Diese Unsicherheit ist Gift für Investitionen. Unternehmen brauchen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten optimale Bedingungen, um die große Transformation hin zur Klimaneutralität zu bewältigen. Es sollte in jedem Fall auch 2030 noch eine wettbewerbsfähige europäische Grundstoffindustrie geben, die auf dem „alten Kontinent“ unter den weltweit höchsten Umweltschutz- und Sozialstandards produziert.
Zugegeben: Im gewaltigen Räderwerk von „Fit-for-55“ finden sich auch viele richtige Elemente. Leider greifen die Zahnräder aber oft nicht ineinander. So soll der europaweite Ausbau der erneuerbaren Energien vorangetrieben werden. Der künftige Bedarf an Grünstrom der Chemie wird aber drastisch unterschätzt. Das gleiche Missverständnis taucht bei der Energieeffizienz auf: Die EU-Kommission will den Einsatz von Strom nicht nur effizienter machen, sondern den Stromverbrauch auch absolut senken.
Dutzende Millionen Pkws und viele große Industrieanlagen zu elektrifizieren bedeutet jedoch, dass der Stromverbrauch stark steigen wird. In Brüssel hat sich das leider noch nicht herumgesprochen. Schließlich kann manches auch am europäischen Beihilferecht scheitern. So ist die Chemie auf sogenannte Carbon Contracts for Difference angewiesen, damit sie in neue klimaneutrale Technologien investieren kann. Diese müssen beilhilferechtlich abgesichert werden.
Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für den Klimaschutz taucht im Paket gar nicht auf: die internationale Klimadiplomatie. Die EU-Kommission handelt offensichtlich weiter nach der Maxime, wonach größere Anstrengungen Europas automatisch internationale Nachahmer finden. Diesen Automatismus aber gibt es nicht.
Deshalb sollte die Europäische Kommission viel stärker auf den Abschluss internationaler Klimaschutzpartnerschaften setzen – und entsprechende Vorschläge im November beim Glasgower Klimagipfel im Reisegepäck haben.
Der Autor: Wolfgang Große Entrup ist Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie.
Mehr: Die EU-Kommission spielt mit der Existenz der Industrie.
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