Gertrud Höhler zum Scheitern von Jamaika Die Wiedergeburt der Demokratie

Gertrud Höhler ist Unternehmensberaterin. Sie erreichen sie unter: [email protected]
Wer hätte das gedacht: Die Demokratie ist ein selbstheilendes System. Der Jamaika-Crash ist die Eilmeldung zum Ende der Beliebigkeit. Nein, in diesem Lande geht nicht alles. Die Fiktion vom „Regierungsauftrag“ stellte niemanden ruhig, und auch die angestaubte Formel, Demokratie sei das Land, in dem „jeder mit jedem koalieren“ könne, wurde vom zugewählten Block der AfD-Abgeordneten widerlegt. Das Programm Merkel, regieren in der postdemokratischen Ära mit fließenden Grenzen zwischen allen Parteien, die einst Wettbewerber waren, schien auf der bunten Zielgeraden unterwegs zu sein.
Und wieder schien das Machtkonzept der Schweigekanzlerin zu greifen: Zuschauen beim Kampf, um als Serenissima weiterzumachen. Freilich war da ein Zusteiger im bunten Boot, der sein Trauma vom Machtverlust erfolgreich bearbeitet hatte: die FDP. Sie hatte sich selbst unter Wahrheitsdruck gesetzt: Alles sei verhandelbar, nicht aber die Werte, denen man verpflichtet sei.
Jamaika, die Gedachte, entwickelte sich zu einer umständlichen Annäherung an den Kern der Demokratie, der seit Jahren von allen Beteiligten weichgekaut worden war: Einheitsdeutschland überwindet Parteigrenzen, so die mitschwingende neue Melodie, seit das Tafelsilber vom Wirtschaftswunderland im Discount angeboten wurde. Die Jamaikaner wussten alle, dass die Fake News vom „Regierungsauftrag“ ein Sedativum für die eigene innere Unruhe waren. Sie wussten nämlich auch, dass Deutschlands glanzvoller wirtschaftlicher Auftritt nicht wegen, sondern trotz des ins Schwimmen geratenen Demokratie-Konsenses weiterging. Draghi auf dem Hochseil ist der Garant für kühne Wagnisse unter der politischen Zirkuskuppel.
Offener Spielplatz der Demokratie
Ernst und Dauer der Verhandlungen waren erste Zeichen der Zweifel, mit denen die Jamaika-Reisenden unterwegs waren. Die Sorgfalt beeindruckte: Das Spiel mit der bunten Fahne von fernen Stränden sollte ein Wunder möglich machen: alle mit allen auf dem allseitig offenen Spielplatz der Demokratie. Die Zweifel reisten mit in dieses Abenteuer.
„Vertragt euch!“, riefen die Väter und Mütter der Idee vom Spielfeldrand. Und die Wähler staunten: jeden Abend, schon vor Advent, das imponierende Adventshaus mit den erleuchteten Fenstern und den huschenden Schattenrissen der Helden einer neuen Ära. „Ein Mix, den es noch nie gab“, so das mutlose Motto, mit dem um Geduld gebeten wurde. Verdächtig aber die eher destruktive Forderung: „Ihr müsst mehr opfern! Wer hat noch nicht das Kernbekenntnis seiner Truppe ausgeliefert? Wer hat immer noch nicht begriffen, dass die Zielmarke auf dem Spielfeld der neuen Staatsführung die Unverwechselbarkeit des demokratischen Players ist? Homogener müsst ihr werden! Wettbewerb ist out!“ So die neue Kernbotschaft, mit der die übermüdeten Gruppenführer in ihrem Adventshaus „Parlamentarische Gesellschaft“ rangen. Weit weg das Parlament, wo die lebenden Beweise in Fraktionsstärke sitzen, die für diese Einigung auf dem niedrigsten Nenner von Anfang an ungeeignet erschienen.
Die scheinbar spielerische Idee, unter der Exotenflagge den Salto mortale der verwundeten Demokratie zu zeigen, ist eingeholt worden von der demokratischen Wirklichkeit. Zumal man sich waghalsige Überlagerungen politischer Großprojekte zumutete, die jedes Augenmaß vermissen lassen, von dem wir so gern reden. Die gemischten Turbulenzen zeigten bereits in der Bundestagswahl, wie die wehrhafte Demokratie zuschlug.
Die Demokratie meldet sich zurück. Der Beweis, dass die Fighter für Jamaika nicht nur Ämter wollen, sondern eine handlungsfähige Regierung, sollte durch die ständigen Verlängerungen des aussichtslosen Ringens erbracht sein. Tatsächlich verstummen die sonst üblichen Verdächtigungen, da seien Mandatsjäger unterwegs gewesen, weil jeder spürt: Hier ist eine nicht mehr für möglich gehaltene Wiederbelebung der Demokratie als Wettbewerb politischer Bekenntnisse zu bestaunen.
Knotenlöser FDP
Vorschnell wurde der Löser des Knotens, der Chef der FDP, beschuldigt. In Wahrheit haben alle verhandelnden Politiker nolens volens mitgewirkt an der Wiederentdeckung der Power, die Demokratie entfalten kann. Die Flüchtlinge auf dem Weg nach Jamaika kehren um: Sie müssen hier und jetzt den illusionär verwahrlosten Laden aufräumen. Offenkundig hatte die traumatisierte FDP, die Apo von gestern, die Kraft, den Rückweg zu zeigen. Dieses Parlament tagt nicht in Jamaika. Es ringt mit den Versäumnissen der soeben abgewählten Politik.
Und die gute Nachricht lautet: Das System selbst, in dem der Wettbewerb der Kräfte zählt, nicht der verlogene Konsens, hat die mutlosen Demokraten zurückgeholt in die Arena. Was jetzt zu tun ist, schaffen wir. Endlich stimmt diese Formel.
Der Jamaika-Crash bringt mehr als den Silberstreif, den so viele Demokraten seit Jahren erhoffen.
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Sehr geehrte Frau Höhler,
es hätte sich sicher auch für Sie gelohnt, das über 60seitige Protokoll der Jamaica-Sondierungen nachzulesen. Auffallend ist zunächst der Umfang. Statt sich auf einige wirklich wichtige Vorhaben zu einigen, redet man über viele Seiten über Gott und die Welt. Dabei bleibt man über weite Strecken völlig unverbindlich. Standardformulierung ist "Wir wollen..." im Sinne eines bloßen Wunsches, ohne Zusicherung konkreter Taten. Und wo es dann doch konkreter wird, gibt es massenhaft eckige Klammern als Zeichen der Nichteinigung.
Mag sein, dass die Grünen und die FDP einige Farbtupfer hinterlassen haben. Aber der Gesamteindruck ist ein Dokument des "Weiter so". Mit diesem "Weiter so" mag Frau Merkel glücklich werden. Aber eine Partei wie die FDP, die große Probleme vor uns sieht und diese lösen möchte, wird dazu nicht die Hand reichen können.
Wußte gar nicht, dass Frau Höhler so argumentieren kann. Ich gebe ihr natürlich voll recht, obwohl ihre Sprache allerdings politisch völlig unkorrekt ist und sie wohl nun in der Nähe der AfD verortet werden wird bzw. als Beleg der AfD - Nähe der FDP ausgelegt werden wird. Ich bin ehrlich erstaunt, dass das Handelsblatt das veröffentlicht. So, aber wir brauchen jetzt trotzdem eine handlungsfähige, berechenbare Regierung. Das Desaster, das Frau Merkel angerichtet hat wird sie auf die Schnelle nicht beheben können, selbst wenn sie es wollte. CDU/CSU sind ausgehölt, die SPD befindet sich in der Reanimation, die FDP will nicht wieder unter die Räder kommen und muss ihre Glaubwürdigkeit wahren. Grüne Politik wird nur von 8% der Wähler bestätigt, obwohl sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu mindestens 30% und in den Medien zu 60% dominiert.
Die AfD mit 13% Wählerstimmenanteil findet in der öffentlichen Akzeptanz nicht statt. Wie bekommen wir eine Regierung? Vielleicht hilft wirklich nur ein letzter Kompromiss: CDU/CSU und SPD einigen sich auf eine konditionierte Koalition mit Kanzlerwechsel zur Halbzeit.