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IndustrieDeutschlands Krise ist die Chance zu neuem Wachstum

Die Wirtschaft des Landes wieder anzukurbeln, ist so schwierig, als würde man das Getriebe eines Autos bei laufendem Motor austauschen. Barry Eichengreen weiß trotzdem, wie es geht. Ein Gastkommentar. 23.12.2024 - 09:04 Uhr Artikel anhören
Der Autor: Barry Eichengreen ist Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaft an der University of California in Berkeley. Foto: REUTERS

Deutschland ist das Paradebeispiel für all das, was in der europäischen Wirtschaft falsch läuft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird voraussichtlich das zweite Jahr in Folge schrumpfen. Energieintensive Branchen wie die Chemie- und Metallindustrie präsentieren sich angeschlagen. Nationale Champions wie Volkswagen und Thyssen-Krupp haben einen beispiellosen Stellenabbau sowie Werksschließungen angekündigt.

Ich vertrete seit Langem die Auffassung, dass diese Probleme am besten zu verstehen sind, wenn man sie als negative Folgen des früheren wirtschaftlichen Erfolgs Deutschlands und der institutionellen Grundlagen dieser damaligen Errungenschaften betrachtet.

Deutschland tut sich schwer, seine Strukturen an die globalen Marktbedingungen anzupassen

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte die Bundesrepublik eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Institutionen, die ideal auf die damaligen Bedingungen zugeschnitten waren. Aufbauend auf der vorhandenen Kompetenz in der Qualitätsfertigung setzte die Politik erfolgreiche Berufs- und Lehrlingsausbildungsprogramme um, die das Angebot an qualifizierten Mechanikern und Technikern erweiterten. Die Industrie verdoppelte ihre Produktion von Kraftfahrzeugen und Investitionsgütern, also in Bereichen, wo sie einen ausgeprägten komparativen Vorteil entwickelt hatte.

Gleichzeitig baute Westdeutschland ein bankbasiertes Finanzsystem auf, um Gelder an marktbeherrschende Unternehmen in diesen Sektoren zu leiten. Zur Sicherung des sozialen Friedens in den Großunternehmen und zur Begrenzung von Konflikten am Arbeitsplatz wurde ein System der betrieblichen Mitbestimmung entwickelt, in dessen Rahmen Arbeitnehmervertreter an Entscheidungen der Unternehmensleitung mitwirken konnten. Das erfreuliche Ergebnis war das Wirtschaftswunder im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts, als Westdeutschland seine wichtigsten Konkurrenten unter den fortgeschrittenen Volkswirtschaften hinter sich ließ.

Als sich die Umstände änderten, erwies es sich leider als äußerst schwierig, diese Institutionen und Strukturen entsprechend anzupassen. Mit dem Aufkommen neuer Konkurrenten, darunter China, wurde der Fokus auf die Qualitätsfertigung problematisch, doch deutsche Firmen hielten weiterhin eisern an dieser Strategie fest.

Die Bundesrepublik muss eine Führungsrolle in der Automatisierung und KI übernehmen

Versuche, die betriebliche Organisation zu ändern, geschweige denn unwirtschaftliche Betriebe zu schließen, wurden durch die Mitbestimmung vereitelt. Die Finanzierung von Start-ups in neuen Branchen gehörte nicht zu den natürlichen Interessen angestaubter Banken, die es gewohnt waren, mit langjährigen Kunden in vertrauten Geschäftsfeldern zusammenzuarbeiten.

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„Deutschland legt seinen letzten Jeton auf den Tisch“

Die Lösungen dieser Probleme scheinen auf der Hand zu liegen:

    mehr Investitionen in Hochschulbildung und weniger in altmodische Lehrlings- und Berufsausbildungen, damit Deutschland eine Führungsrolle in der Automatisierung und Künstlichen Intelligenz (KI) übernehmen kann,Aufbau einer Risikokapitalbranche, um Risiken einzugehen, die Banken nicht bereit sind zu tragen,Einsatz makroökonomischer Maßnahmen zur Steigerung der Ausgaben, anstatt auf zollbelastete Exportmärkte angewiesen zu sein,und die betriebliche Mitbestimmung und das gemischte Verhältniswahlrecht überdenken, das seine Zweckmäßigkeit überlebt hat.Nicht zuletzt gilt es, die Schuldenbremse zu lösen. Auf diese Weise kann die Regierung mehr in Forschung und Entwicklung sowie in Infrastruktur investieren, zwei entscheidende Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg im 21. Jahrhundert.

Solche Veränderungen sind in etwa so schwierig umzusetzen, als würde man das Getriebe eines Volkswagens bei laufendem Motor austauschen wollen. Ein Beispiel: Deutsche Banken, die auf ihre bestehenden Kundenbeziehungen angewiesen sind, vergeben Kredite am liebsten an alteingesessene Unternehmen, die ihre Geschäfte auf altbewährte Weise abwickeln. Umgekehrt sind diese Firmen am erfolgreichsten, wenn sie langjährige Beziehungen zu Banken haben, auf die sie sich bei der Finanzierung verlassen können.

Vielleicht handelt es sich zurzeit genau um die Krise, die Deutschland braucht, um seinen Stillstand aufzubrechen.
Barry Eichengreen

Ersetzt man diese etablierten Unternehmen durch Start-ups, sind die Banken, denen das Fachwissen von Risikokapitalfonds fehlt, aufgeschmissen. Vergeben sie dennoch Kredite, laufen sie Gefahr zu scheitern. Ersetzt man Banken durch Risikokapitalfonds, die wenig Interesse an schwerfälligen Metallbiegeunternehmen haben, verlieren diese Unternehmen den Zugang zu Fremdfinanzierungen, auf die sie angewiesen sind. So stellt sich der institutionelle Stillstand in Deutschland dar.

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Die schlechte Nachricht lautet also, dass zwischen der aktuellen Wirtschaftslage Deutschlands und seinem institutionellen Erbe ein schwerwiegendes Missverhältnis besteht und dass es große Hindernisse gibt, dieses Erbe zu ändern, um es mit der aktuellen Wirtschaftslage in Einklang zu bringen. Die gute Nachricht lautet, dass eine Krise, die zu einem umfassenden Umdenken hinsichtlich des institutionellen Erbes führt, den Stillstand möglicherweise aufbrechen könnte. Vielleicht handelt es sich also genau um die Krise, die Deutschland braucht.

Der Autor: Barry Eichengreen ist Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaft an der University of California in Berkeley.

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