Prüfers Kolumne Wenn die freie Zeit zur persönlichen Hölle wird

Tillmann Prüfer ist Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“.
Manchmal, fürchte ich, arbeite ich zu viel. Ich arbeite dann um des Arbeitens willen. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, Arbeiten sei die einzig sinnvolle Art, meine Zeit zu füllen. Ich könnte auch zum Beispiel etwas lesen, meine Augenbrauen zupfen oder an die Wand starren. Aber mein Über-Ich macht mir Probleme.
Ich frage mich dann, mit welchen anderen, sinnvolleren Sachen ich meine Zeit verbringen sollte. Gibt es wirklich nichts Besseres zu tun? Gibt es keine Deadline, an die ich nicht gedacht habe? Fehlt nicht jemandem eine Rückmeldung? Ich kann also gar nicht glauben, dass ich wirklich freie Zeit habe und einfach mal mein Leben genießen könnte.
Wenn es sich aber herausstellt, dass ich tatsächlich nichts, gar nichts zu tun habe, dann fange ich an, mir wirklich Sorgen zu machen. Warum habe ich nichts zu tun? Bin ich nicht mehr wichtig? Wurde ich übergangen? Bin ich etwa ausgebootet worden, und machen nun andere Leute die wichtigen Sachen? Ist das der erste Tag meiner Rente? Falls ich tatsächlich also mal Zeit für mich habe, ist das die Hölle. Ich kann es nicht genießen.
Dabei sollte ich wohl dringend üben, nichts zu tun. Ich habe nämlich in der „New York Times“ gelesen, dass ich wohl zu einer aussterbenden Generation von Arbeitnehmern gehöre, die gewissermaßen psychisch deformiert sind und einem toxischen Mindset anhängen: nämlich dem, dass viel Arbeit gut ist und man sich um irgendetwas verdient macht, wenn man seine Woche mit Arbeitszeit verfüllt.
Dabei seien viel investierte Stunden gar nicht unbedingt besser. Im Gegenteil: Studien hätten ergeben, dass die Produktivität ab 48 Stunden in der Woche deutlich abnehme. Wer also damit angibt, dass er eine 60-Stunden-Woche habe, kann davon ausgehen, dass zwölf Stunden davon vertane Zeit sind.
Wer weniger arbeitet, ist ein Gewinn
Mit mehr Arbeitszeit wird es immer nur noch schlimmer: Wer dauerhaft 55 Stunden oder mehr arbeitet, ist insgesamt unproduktiver als jemand, der acht Stunden pro Tag schuftet. Demnach wäre ich also auch für meinen Arbeitgeber auf lange Sicht eher ein Gewinn, wenn ich weniger arbeiten würde.
In der „New York Times“ wurde die Konvention gegeißelt, dass Führungskräfte in den USA dazu angehalten werden, 60 Stunden im Büro zu verbringen, während viele Jüngere sich mit mehreren Teilzeitjobs über Wasser halten müssten. Es wäre doch viel vernünftiger, wenn Chefs einem 30-Stunden-Job nachgingen und die restliche Arbeitszeit nutzten, um neue Jobs zu schaffen. Eine 30-Stunden-Woche für alle, das klingt doch sehr vernünftig.
Ich aber könnte da leider nicht mitmachen. Die ganze freie Zeit würde mich umbringen, fürchte ich.
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