Verteidigung: Das deutsche politische System muss seine Komfortzone verlassen

Zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gewinnt die Frage der Geschwindigkeit bei der militärischen Beschaffung und Produktion an Bedeutung – und Europa wird sich hier stärker engagieren müssen. Insbesondere Deutschland hat seine Sicherheit jahrzehntelang vernachlässigt, und die Situation verbessert sich nur sehr langsam.
In einer aktuellen Studie für das Kiel Institut haben wir gezeigt: Wenn es zum Beispiel um Artillerie geht, würde es beim derzeitigen Beschaffungstempo viele Jahrzehnte dauern, bis die Bundeswehr wieder über die Anzahl von Systemen verfügt, die sie noch vor 20 Jahren hatte. Gleichzeitig hat die russische Militärproduktion massiv zugenommen, sodass sie in weniger als einem Jahr den gesamten deutschen Bestand an wichtigen Waffensystemen produzieren kann.
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Trotz der erschreckenden Zahlen glauben aber viele, selbst im Kreis der Sicherheitsexperten, dass Deutschland sich letztlich weiterhin auf die USA für die Verteidigung verlassen kann. Das Argument lautet, dass Deutschland nur selektiv investieren müsse, da viele wichtige militärische Ziele, wie zum Beispiel die Sicherung der Lufthoheit, letztlich von den USA bereitgestellt würden.
Viele Verteidigungspolitiker stehen auch einem europäischen Ansatz bei der Beschaffung von Rüstungsgütern skeptisch gegenüber. Warum sollte man über Europa nachdenken, solange man eine heimische Industrie hat und ansonsten amerikanische Produkte kaufen kann?
In der Tat waren die bisherigen Initiativen in der EU zur gemeinsamen Beschaffung von Verteidigungsgütern nicht sehr erfolgreich. Es ist jedoch an der Zeit, die übermäßige Abhängigkeit von den USA sowohl bei der Bereitstellung von Sicherheit als auch bei der Lieferung wesentlicher Waffensysteme zu überwinden. Das deutsche politische System muss seine Komfortzone aus drei Gründen verlassen.
Erstens werden die USA, unabhängig vom Wahlergebnis im November, andere Weltregionen verstärkt in den Fokus nehmen.
Zweitens müssen sich die politischen Entscheidungsträger der Tatsache stellen, dass die USA sich zu einer fragilen politischen Politeia entwickeln, die möglicherweise vor einer schweren Verfassungskrise steht.
Drittens ist die Produktionskapazität der USA für militärische Güter eingeschränkt, da sie wichtige Waffensysteme an Verbündete in Asien, im Nahen Osten und in der Ukraine liefern. Systeme wie die Himars-Raketenartillerie werden künftig stark nachgefragt werden, beispielsweise von Staaten wie Taiwan, die sich durch China bedroht fühlen.
In diesem kritischen Moment sollte die deutsche Regierung eine europäische Verteidigungsstrategie entwickeln und vorantreiben.
Tatsächlich wurden frühere Initiativen zur europäischen Beschaffung von Verteidigungsgütern in der Regel durch übermäßigen nationalen Protektionismus behindert. Die Staaten gaben vor, dass nationale Sicherheitsinteressen der Grund für den Protektionismus seien, während oft lokale Arbeitsplätze den wahren Antrieb darstellten.
Europäische Integration stärkt Rüstungsindustrie
Steigende Verteidigungsbudgets bedeuten nun aber, dass ohnehin mehr Arbeitsplätze im Verteidigungssektor geschaffen werden. Auch die Situation der europäischen Rüstungsunternehmen hat sich seit 2022 erheblich verbessert. Es besteht daher Spielraum, um gegen Protektionismus vorzugehen, der durch lokale industriepolitische Interessen motiviert ist.
Eine europäische Strategie für die Rüstungsproduktion sollte auf höhere Produktionszahlen zu niedrigeren Stückkosten abzielen. Das ist nur durch eine stärkere Industrialisierung der Fertigung und eine stärkere Spezialisierung der Rüstungsproduktion in ganz Europa möglich.
Eine europäische Rüstungsstrategie muss Wege finden, um Marktkräfte und Unternehmen über die beste Möglichkeit entscheiden zu lassen, kostengünstig zu produzieren. Anstatt dass jedes Land kleine Mengen zu hohen Kosten von lokalen Herstellern kauft, muss Europa Wege finden, um durch die Integration seiner Märkte Größenvorteile zu nutzen.
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Ein europäischer Schuldenfonds würde eine rasche Steigerung der Nachfrage sicherstellen. Er könnte zur Stärkung der deutschen Luftverteidigungsinitiative „European Sky Shield“ eingesetzt werden, was zu mehr gemeinsamer Beschaffung und Skaleneffekten führen würde. Er würde die gemeinsame Beschaffung stärken, den Ausbau der Verteidigungsfähigkeiten beschleunigen und die Marktintegration unterstützen.






Fest steht: Ein militärisch stärkeres Europa ist für die Zukunft der Nato von entscheidender Bedeutung. Ein selbstgefälliges „Weiter-so wie bisher“ kann sich Deutschland nicht mehr leisten.
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