Gastkommentar: Frankreichs Staatsfinanzen bedrohen Europas Sicherheit

Wer glaubt, dass das europäische Projekt in Gefahr ist, braucht nicht auf mittel- bis langfristige Bedrohungen wie Russland zu schauen: Das hohe Haushaltsdefizit Frankreichs stellt eine viel deutlichere und unmittelbarere Gefahr für die Europäische Union dar.
Die jüngsten Berichte des Cour des Comptes, des nationalen Rechnungshofs, sind Pflichtlektüre für jeden Händler von Staatsanleihen: Sie zeichnen ein äußerst genaues Bild der aktuellen Lage der öffentlichen Finanzen sowie des französischen Rentensystems, das eine der Hauptursachen für das große Haushaltsdefizit ist.
Doch damit nicht genug: Der unabhängige Thinktank Institut des Politiques Publiques (IPP) stellte jüngst die Rechnungslegungsstandards infrage, mit denen der nationale Rechnungshof den Zustand des französischen Rentensystems bewertet.
Auch der Budgetvorschlag, den der französische Ministerpräsident François Bayrou am Dienstag gemacht hat, basiert auf diesen Standards und ist damit kaum realistisch. Zudem ist fraglich, ob er für seinen Sparhaushalt überhaupt eine Mehrheit im Parlament findet.
Obwohl das Rentenalter inzwischen offiziell bei 64 Jahren liegt, ist das System nach wie vor weitgehend unausgewogen und benötigt jährliche Unterstützung aus dem Staatshaushalt.
Laut IPP macht das Rentensystem 13,8 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus und hat ein Jahresbudget von 388 Milliarden Euro. Davon werden aber nur 288 Milliarden aus Sozialbeiträgen finanziert.
Frankreichs kreative Buchführung
Von der 100 Milliarden Euro großen Lücke werden 40 Milliarden im Staatshaushalt für Renten ausgewiesen. 46 Milliarden Euro zweigt der Staat über verschiedene Kanäle von den Beamtenpensionen ab. Weitere 21,4 Milliarden zieht er dank der aktuellen Rechnungslegungsstandards aus den Budgets verschiedener Ministerien ab.
Dadurch werden zum einen die tatsächlichen Kosten eines französischen Beamten künstlich aufgebläht ebenso wie die Budgets der Ministerien für Bildung, Verteidigung, Forschung und Inneres, von denen jeweils Geld für das Rentensystem abgezogen wird.
Zwar hat die seit Januar amtierende Regierung von Premierminister François Bayrou die nationalen Rechnungsprüfer beauftragt, sich mit den geltenden Rechnungslegungsstandards zu befassen. Die Prüfer lehnten dies jedoch ab und entschieden sich dafür, die derzeitige Rechnungslegungsfiktion fortzusetzen.
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All dies ist Fachleuten wohlbekannt. Was gestern noch akzeptabel war, ist heute jedoch zu einem Mühlstein um den Hals Frankreichs geworden und wird es morgen zu Fall bringen.
Erstens suggerieren die im Haushalt überhöhten Ausgaben für Bildung und Forschung, dass Frankreichs Bildungsbudget im OECD-Schnitt liegt. Tatsächlich liegt es weit darunter. Damit ist es sehr unwahrscheinlich, dass Frankreich über eine ausreichend ausgebildete Bevölkerung verfügt, um das erforderliche Wachstum zu erzielen.
Zweitens zeigt der IPP-Bericht, dass das französische Finanzministerium, das die Budget- und Konjunkturprognosen erstellt, kaum noch zuverlässige Vorhersagen treffen kann, wenn die einzelnen Budgetposten so miteinander verschwimmen.
Drittens werden die Staatsfinanzen durch die Forderung der Trump-Regierung, dass die Nato-Mitglieder ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen sollen, noch unhaltbarer.
Europa kann sich keine zwei kranken Führungsmächte leisten
Viertens ist es eine traurige Tatsache, dass sowohl Frankreich als auch Deutschland gleichzeitig eine wirtschaftliche Stagnation erleben. Die EU kann mehr oder weniger mit einem „kranken Mann Europas“ in ihrer Führungsriege fertigwerden. Zwei kranke Männer sind aber problematisch.
Die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands, auch wenn sie nur vorübergehend ist, wird zweifellos zu einer Krise des Vertrauens in die öffentlichen Finanzen Frankreichs beitragen und diese beschleunigen.
Die gute Nachricht ist, dass wir dem immer noch vorbeugen können. Die Franzosen mit den höchsten Renten (3000 Euro und mehr pro Monat, die sieben Prozent aller Rentner beziehen) muss erhebliche Kürzungen ihrer Leistungen hinnehmen, da diese Bezüge eine der Hauptursachen für das Defizit des Systems sind.
Das strukturelle Defizit des Rentensystems muss auf ein handhabbares Niveau reduziert werden. Das wird dazu beitragen, das Primärdefizit Frankreichs zu verringern. Die irreführenden Buchführungsstandards müssen abgeschafft und Zuzahlungen zum Rentensystem und deren Quellen auch als solche ausgewiesen werden, um das Vertrauen in die Finanzen des Landes wiederherzustellen.
Ein unparteiisches Haushaltsbüro muss eingerichtet werden, um die fehlerhaften Prognosen des Finanzministeriums zu ergänzen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die aktuelle Regierung den Mut oder die Fähigkeit hat, solche Reformen durchzusetzen. Die Folgen der Untätigkeit sind jedoch gravierend.






Der Autor: Romain Poirot-Lellig ist ehemaliger EU-Diplomat und Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Sciences Po in Paris.
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