Global Challenges: Auf welche Seite schlägt sich der globale Süden?

Pinelopi Koujianou Goldberg war Chefökonomin der World Bank Group und Chefredakteurin des American Economic Review. Heute lehrt sie Wirtschaftswissenschaften an der Yale University.
Die Vereinigten Staaten und Europa stehen China, Russland und dem Iran zunehmend feindselig gegenüber. Die Frage ist, auf welche Seite sich der globale Süden stellen wird. Der ist zwar extrem heterogen, dennoch haben sich einige Muster herauskristallisiert. Klar ist bereits, dass das Wirtschaftswachstum insgesamt sinken wird.
Die Entwicklungsländer sind bestrebt, nicht Partei zu ergreifen. Das zeigt die mangelnde Bereitschaft von Ländern wie Indien und Brasilien, die Invasion in der Ukraine klar zu verurteilen.
Bei der Haltung ist oft wirtschaftliches Eigeninteresse im Spiel. So profitiert Indien von den relativ billigen russischen Ölimporten und versucht gleichzeitig, US-Investitionen anzuziehen, um China als Investitionsziel und potenziell großen Exporteur in den fortgeschrittenen Ländern zu ersetzen.
China hat die USA als wichtigsten Handelspartner Brasiliens abgelöst, und ein kürzlich unterzeichnetes bilaterales Handelsabkommen beider Länder dürfte die Wirtschaftsbeziehungen weiter stärken. Aus der Sicht von Ländern wie Indien oder Brasilien sind Handel und Globalisierung nicht tot. Sie nehmen nur eine neue Form an, von der letztlich diejenigen profitieren können, denen es gelingt, neutral zu bleiben und erfolgreich durch die turbulenten globalen Gewässer zu navigieren.
Handelskrieg zwischen den USA und China
Die Positionen im globalen Süden hängen aber nicht nur von wirtschaftlichem Kalkül ab. Das mag Indien davon abgehalten haben, im Ukrainekrieg Partei zu ergreifen. Premierminister Modi gehörte aber zu den Ersten, die die Gräueltaten der Hamas gegen israelische Zivilisten verurteilten. Die Verurteilung wurde schnell durch eine offizielle Erklärung ergänzt, in der Indien sein Engagement für einen unabhängigen palästinensischen Staat bekräftigte. Der Grund für die politische Positionierung hängt vielleicht mit der Sensibilität gegenüber Terrorakten islamischer Organisationen zusammen.
Die ersten Auswirkungen des Handelskriegs zwischen den USA und China scheinen bislang zudem die Hoffnungen der Länder zu nähren, die von den zunehmenden geopolitischen Spannungen profitieren wollen.
So haben die Zölle, die sich die USA und China gegenseitig auferlegt haben, zwar den direkten Handel zwischen den beiden Ländern drastisch reduziert. Aber andere Länder haben ihre Exporte gesteigert - nicht nur in die USA oder China, sondern auch in den Rest der Welt.
Am stärksten sind die Exporte prozentual in Rumänien gestiegen, gefolgt von der Türkei, Vietnam, Thailand, Korea und Mexiko.
Länder können nicht immer neutral bleiben
Der Wettbewerb zwischen den beiden geopolitischen Blöcken kann auch dazu führen, dass mehr Hilfe und Investitionen in unbeteiligte Länder fließen.
So hat die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Kriegs zu einigen der umfangreichsten Entwicklungshilfeleistungen für Länder mit niedrigem Einkommen geführt. Als sich Argentinien vor Kurzem an China wandte, um Hilfe bei der Bewältigung seiner enormen Auslandsschulden zu erhalten, reagierte der IWF rasch mit einer neuen Runde von Umschuldungsgesprächen.
Dennoch gibt es Grenzen für das Ausmaß, in dem Länder der aufkommenden wirtschaftlichen Zweiteilung ausweichen können. Die von den USA verhängten Exportbeschränkungen in der Halbleiterindustrie etwa werden Unternehmen in allen Ländern der Welt vor die Wahl stellen, entweder nach China zu exportieren oder auf den Zugang zu amerikanischer Technologie und spezialisierter Kapitalausstattung zu verzichten.
Blockbildung fördert den Handel
Die jüngsten politischen und sozioökonomischen Kräfte begünstigen auch auf andere Weise den Handel zwischen fortgeschrittenen Ländern. So hat die Sorge um die Widerstandsfähigkeit der globalen Lieferketten zu Forderungen nach einem Re- oder Friendshoring geführt. Daten aus einer Umfrage der US-Regierung deuten darauf hin, dass in den USA die Wahrnehmung von „Freundschaft" stark proeuropäisch geprägt ist.
Zweitens spielen die Bemühungen, den Klimawandel durch die Bepreisung von Kohlenstoff zu bekämpfen - so lobenswert sie wirtschaftlich auch sein mögen -, die fortgeschrittenen Länder gegen Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen aus. Die ärmeren Länder sind in ihrer Produktion immer noch stark auf Kohle oder Öl angewiesen, und ein langsameres Wachstum ist für sie keine Option.
Auch die Sorge um Arbeits- und Produktstandards, Lebensmittelqualität und humanitäre Gründe begünstigen den Handel zwischen gleichgesinnten, fortgeschrittenen Volkswirtschaften, die dieselben Werte teilen.
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Kurzum: Es ist zwar möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass einzelne Länder des globalen Südens von der zunehmenden Fragmentierung in Form von Hilfe, Umschuldung oder gesteigerten Exporten profitieren werden. Doch die hohen Wachstumsraten und die Armutsbekämpfung aus der Zeit der Hyperglobalisierung scheinen der Vergangenheit anzugehören.
Der Wettbewerb um Einfluss zwischen den großen Wirtschaftsblöcken kann auch zu einem Wettlauf nach unten führen, wenn die Bedingungen für Kredite, Rettungsaktionen und Hilfen gelockert werden und humanitäre Standards und Rechenschaftspflichten missachtet werden.
„Re- oder Friendshoring" im Namen der nationalen Sicherheit dürfte den Handel weg von den einkommensschwachen Volkswirtschaften lenken, die Handel und Auslandsinvestitionen am meisten benötigen.
Es ist kein Zufall, dass die Zeit, in der die Armut weltweit am schnellsten zurückging, zwischen 1990 und 2015 mit einer Periode relativen Friedens, Stabilität und internationaler Zusammenarbeit zusammenfällt. Leider scheinen diese Bedingungen in absehbarer Zukunft nicht mehr gegeben zu sein.
Die Autorin:




Pinelopi Koujianou Goldberg war Chefökonomin der World Bank Group und Chefredakteurin des American Economic Review. Heute lehrt sie Wirtschaftswissenschaften an der Yale University.
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