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ArbeitsmarktWarum trotz Rekordbeschäftigung die Arbeitslosigkeit steigt

In Deutschland steigt die Zahl der Erwerbslosen – und zugleich nimmt der Fachkräftemangel zu. Eine gleichermaßen seltene wie gefährliche Kombination, für die es kein Allheilmittel gibt.Bert Rürup, Axel Schrinner 10.10.2025 - 08:54 Uhr Artikel anhören
Ausländische Fachkraft in der Industrie: Oft nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt. Foto: dpa

Düsseldorf. Es war letztlich der Boom auf dem Arbeitsmarkt, der es in der vergangenen Dekade möglich machte, die Staatsfinanzen zügig zu sanieren. Sinkende Arbeitslosenzahlen bei steigender Beschäftigung bedeuten nicht nur geringere Ausgaben für die Bundesagentur für Arbeit (BA), sondern auch steigende Beitragseinnahmen in allen Sozialversicherungszweigen und nicht zuletzt wachsende Steuereinnahmen. Sieben Jahre in Folge erzielte der Staat Überschüsse.

Gegenwärtig spricht niemand mehr von einer „schwarzen Null“ – also einem ausgeglichenen Staatshaushalt ohne neue Schulden – oder einem „German Jobwunder“. Unter Herausrechnung von Kalendereinflüssen stieg die Arbeitslosenzahl in den vergangenen drei Jahren in 33 Monaten – auf aktuell nahezu drei Millionen Personen. Im Vergleich zu den Tiefstständen aus dem Frühjahr 2019 sind heute etwa 750.000 mehr Personen arbeitslos.

Und dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die Bürgergeldstatistik weist nahezu vier Millionen „erwerbsfähige Leistungsbezieher“ aus, also Grundsicherungsempfänger mit keinem oder zu geringem Einkommen, um ihr Existenzminimum zu sichern.

Nun ist in einer Marktwirtschaft die Zahl der Erwerbstätigen kein Selbstzweck; sie basiert vorrangig auf den Gewinnerwartungen von Privatunternehmen. Insofern kann nach nahezu sechs Jahren gesamtwirtschaftlicher Stagnation ein Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht überraschen.

Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit: Im vergangenen August lag die Zahl der Erwerbstätigen mit 45,8 Millionen nahe ihrem Allzeithoch. Selbst in den 2010er-Boomjahren waren weniger Menschen beschäftigt als heute, in der längsten wirtschaftlichen Schwächephase der Nachkriegszeit.

Trend zur Teilzeit

Ein maßgeblicher Grund dafür ist die steigende Anzahl von direkt oder indirekt beim Staat Beschäftigten. Nach BA-Daten lag im vergangenen Sommer die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in den Branchen „Heime und Sozialwesen“ 2,8 Prozent über dem Vorjahresniveau. Im „Gesundheitswesen“ betrug das Plus 2,4 Prozent und in der „öffentlichen Verwaltung“ 2,1 Prozent. Im verarbeitenden Gewerbe war die Beschäftigtenzahl hingegen um 2,3 Prozent zurückgegangen.

Hinzu kommt der Trend zur Teilzeit. Während in den 1990er-Jahren eine Teilzeitbeschäftigung noch die Ausnahme war, ist dies heute mit 17 Millionen Beschäftigten zu einer Normalität geworden. Im zweiten Quartal 2025 überschritt die Teilzeitquote erstmals die 40-Prozent-Marke. Umfragen zufolge arbeitet die große Mehrzahl freiwillig in Teilzeit; lediglich knapp fünf Prozent gaben an, keine Vollzeitstelle gefunden zu haben.

Gleichzeitig gibt es genügend Arbeitsangebote. So zählte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im zweiten Quartal dieses Jahres 1,06 Millionen offene Stellen, und die Klagen der Wirtschaft über Fachkräftemangel nahmen zu. In einer Ifo-Umfrage aus dem Spätsommer gaben 28 Prozent der Unternehmen an, zu wenig qualifiziertes Personal zu finden. Dies war ein Prozentpunkt mehr als im Frühjahr.

Besonders groß war der Arbeitskräftemangel im Dienstleistungssektor; dort meldete jedes dritte Unternehmen entsprechende Engpässe, während in der Industrie dieser Mangel von 18 auf 19 Prozent anstieg. Und auch im Baugewerbe verschärfte sich der Fachkräftemangel – kein gutes Vorzeichen für die Infrastrukturoffensive der Regierung.

Als Ursache für diese Defizite wird zumeist die Bevölkerungsalterung genannt. Dies ist sicherlich ein Grund, dennoch greift diese Erklärung zu kurz. Angesichts des gegenwärtigen Regeleintrittsalters der gesetzlichen Rente von 66 Jahren und zwei Monaten müssten in diesem Jahr vor allem die 1959 geborenen Beschäftigten in Rente gehen. Mit 1,24 Millionen Geburten war das Jahr 1959 kein sonderlich geburtenstarker Jahrgang im Vergleich zu den stärker besetzten folgenden sieben Jahrgängen. Die absehbar kräftig steigende Zahl der Renteneintritte der Babyboomer steht noch bevor.

Arbeitsmarkt

Kritik an Regierungsplänen für „Aktivrente“

Fakt ist, dass viele Ältere nicht bis zur gesetzlichen Regelaltersgrenze arbeiten. Die Gründe hierfür reichten von gesundheitlichen Einschränkungen über versicherungsrechtliche Besonderheiten oder attraktive Frühverrentungsangebote seitens der Unternehmen bis hin zum individuellen Wunsch nach mehr Freizeit, schreibt das Statistische Bundesamt. Während 2024 noch 79 Prozent der 60-Jährigen erwerbstätig waren, nimmt die Erwerbstätigkeit ab dem Lebensalter von 62 Jahren deutlich ab. So waren von den 62-jährigen Erwerbspersonen nur noch 70 Prozent beschäftigt, bei den 64-Jährigen sank der Anteil sogar auf 46 Prozent.

Steigende Zahl der Schulabbrecher

Ein oft verdrängtes Problem ist, dass die Qualifikationen der verfügbaren Arbeitskräfte oft nicht den Anforderungen der Arbeitgeber genügen. Etwa 60 Prozent der Bürgergeldempfänger haben keine Ausbildung – mit der Folge, dass auf jede freie Hilfskraftstelle 13 ungelernte Arbeitsuchende kommen.

Hinzu kommt, dass die Anzahl der Schulabbrecher steigt. Im Schuljahr 2023/24 verließen nach Angaben des Statistischen Bundesamts 7,8 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss; vor zehn Jahren betrug diese Quote noch 5,5 Prozent.

Überdies wächst die Zahl derer, die nach dem Schulende eine Beschäftigung als Hilfskraft einer Lehre vorziehen. Offenbar sind 2300 Euro Monatsbruttolohn für eine Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn für viele junge Menschen attraktiver als eine nur halb so hohe Ausbildungsvergütung bei gleichem Arbeitseinsatz. Ein erheblicher Teil des Fachkräftemangels erwächst daher aus Defiziten im Bildungssystem.

Als eine Antwort auf den Fachkräftemangel gilt die Zuwanderung qualifizierter Einwanderer. Deshalb warb der ehemalige Arbeitsminister Hubertus Heil in Indien, Brasilien und Ghana um Fachpersonal – vergebens. Denn der erhoffte Schub blieb aus.

Selbst jene Migranten, die gut qualifiziert sind, arbeiten oft unter ihren Fähigkeiten. Nach Eurostat-Daten liegt in Deutschland die „Überqualifizierungsquote“ bei 33 Prozent. Im Klartext: Jeder dritte Nicht-EU-Ausländer mit einem heimischen Meister-, Techniker- oder Hochschulabschluss arbeitet hierzulande in einem Beruf mit geringeren Anforderungen.

Altersvorsorge

Sozialverbände melden Bedenken bei „Aktivrente“ an

Diese Vielzahl von Dysfunktionalitäten zeigt, dass es ein Patentrezept gegen den Fachkräftemangel nicht geben kann. Ein wichtiger Schritt wäre, neue Vorschriften vor Verabschiedung daraufhin zu prüfen, ob und welchen Einfluss sie auf das Arbeitsangebot haben. Naheliegend wäre es zudem, bestehende institutionelle Beschäftigungsbremsen zu lockern. Um die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit weiter zu erhöhen, sollten echte Ganztagsschulen obligatorisch und das Ehegatten-Splitting sowie die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung kritisch hinterfragt werden.

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Zudem ist es ökonomisch wenig sinnvoll, ausgerechnet geringfügige Beschäftigung steuerlich zu privilegieren. Und wer sich für einen höheren Mindestlohn starkmacht, sollte bedenken, dass damit manche berufliche Ausbildung unattraktiver wird.

Nicht zuletzt aber sind Unternehmer notwendig, die an die Zukunft des Standorts Deutschland glauben. Denn ohne zusätzliche private Investitionen wird das Land kaum der Abwärtsspirale aus Pessimismus, steigender Arbeitslosigkeit und wachsender Staatsverschuldung entkommen.

Mehr: Wahlgeschenk für Boomer? Die Aktivrente begünstigt die Falschen

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