Europa-Kolumne America first, Europa allein

Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: [email protected]
Es sollte der wunderbare Beginn einer restaurierten Freundschaft werden. Als US-Präsident Joe Biden im Juni nach Europa reiste, um die Anfeindungen der Ära Donald Trump vergessen zu machen und Amerikas transatlantischen Treueschwur zu erneuern, schwärmte Kommissionschefin Ursula von der Leyen über den „lieben Joe“ und die „großartige Nachricht“, dass die USA zurück seien.
Keine drei Monate später ist von Aufbruchsstimmung nur noch wenig zu spüren. Das Desaster des Afghanistanabzugs, Amerikas Einreisesperren gegen Europäer, ungelöste Handelskonflikte – die Ernüchterung in Brüssel ist groß. Die jetzige Entscheidung der EU, die Amerikaner ebenfalls wieder mit Reisebeschränkungen zu belegen, ist nicht nur eine Reaktion auf die hohen Infektionszahlen in den USA. Sie ist auch die Quittung für die sture Weigerung Washingtons, EU-Bürger in den USA willkommen zu heißen. So sieht es aus, wenn Zuneigung erkaltet.
Eigentlich müsste nun die Stunde der amerikanischen Diplomatie schlagen, um die enttäuschten Verbündeten zu beruhigen. Doch die zentralen Posten der USA in Brüssel sind noch immer unbesetzt. Weder für die EU noch für die Nato gibt es einen US-Botschafter – ein Ausdruck der inneren Blockaden Amerikas, die den außenpolitischen Spielraum der Weltmacht eingrenzen.
Idee reicht bis in die 1950er-Jahre zurück
Auch deshalb werden in Brüssel nun wieder Konzepte hervorgeholt, die Europa zu einem eigenständigen geopolitischen Akteur machen sollen. Der EU müsse Transformation von einem Markt in eine Macht gelingen, fordert der französische Binnenmarktkommissar Thierry Breton, wie viele seiner Landsleute ein glühender Verfechter der „strategischen Autonomie“ Europas.
Der „einseitige Abzug der US-Truppen“ habe „einmal mehr die starke Abhängigkeit“ der EU von der Außen- und Sicherheitspolitik der USA deutlich gemacht, klagt Breton. Er macht sich für eine Eingreiftruppe der EU stark, „die einsatzbereit und flexibel ist und schnell mobilisiert werden kann“.
Die Idee, mit einer Europa-Armee die Nato zu ergänzen, reicht in die 1950er-Jahre zurück. Bisher hat kein geopolitischer Schock ausgereicht, um die Planspiele Wirklichkeit werden zu lassen – nicht einmal die Attacken des „America first“-Präsidenten Trump auf Europa. Biden wollte das Vertrauen der Bündnispartner in die Sicherheitsgarantien der USA wiederherstellen. Der abrupte Abzug aus Afghanistan hat allerdings gezeigt, dass auch Biden innenpolitisches Kalkül vor außenpolitische Verlässlichkeit stellt.
Die Amerikaner waren den Krieg am Hindukusch nach 20 Jahren schlicht und einfach leid, die Europäer müssen sich nun mit den Folgen herumschlagen – mit noch mehr Instabilität an den Außengrenzen, steigendem Migrationsdruck und wachsenden Terrorgefahren.
Wenn Europa öfter auf sich allein gestellt ist, braucht es Mittel, seine Interessen zu schützen, auch militärische. Diese Erkenntnis steht hinter Bretons Vorstoß. Er wäre es wert, auch im deutschen Wahlkampf diskutiert zu werden. Denn die nächste Bundesregierung wird sich der Debatte stellen müssen. Schon deshalb, weil Frankreich kurz nach der Wahl die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.
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