Sanktionen gegen Russland: Europa steht ein schwieriger Winter bevor, Russland dauerhaftes Siechtum

Der Autor: Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten in der EU-Kolumne Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der Europäischen Union. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: koch@handelsblatt.com
Brüssel. Die Lage Europas ist prekär, und Brüssels Spitzenpersonal scheut sich nicht davor, das auszusprechen. Josep Borrell, Chefdiplomat der EU, sieht einen „Tsunami“ auf die Staatenunion zurollen, eine „dreifache Krise“ aus teurer Energie, steigenden Lebensmittelkosten und instabilen Staatsfinanzen. „Wenn wir uns nicht zusammenschließen, werden wir nicht überleben“, mahnt er.
Die dramatische Rhetorik zeigt, dass im Wirtschaftskrieg mit Russland die Stimmung kippt. Das Vertrauen der Europäer in die eigene Stärke schwindet, je näher der Winter rückt, je höher die Kurse an den Strombörsen springen und je stärker sich Rezessionsängste ins Bewusstsein der Bevölkerung fressen.
Während Spekulanten beginnen, gegen den Euro zu wetten, hat sich der Rubel stabilisiert, die russische Notenbank senkt die Zinsen. Dank der hohen Ölpreise sprudeln Russlands Deviseneinnahmen, etwa eine Milliarde Dollar täglich. Kremlchef Wladimir Putin kann es sich leisten, die Gaszufuhr zu drosseln und Europas Energiekrise nach Belieben zu verschärfen.
Die EU dagegen doktert eifrig an ihrem Sanktionsregime herum, eilt von einer Notoperation zur nächsten. Jetzt sollen Einreisesperren das Blatt wenden, die Russen endlich zur Einsicht bringen. Am Dienstag wollen die europäischen Außenminister über den Vorschlag beraten, russischen Staatsbürgern die Einreise in den Schengen-Raum zu erschweren.
Solange Ukrainer im Abwehrkampf gegen Moskaus Invasionsarmee sterben, sollen Russen nicht mehr das süße Leben am Mittelmeer genießen können. Das zumindest fordern Finnen, Balten und Polen. Die Bundesregierung stemmt sich dagegen. Als Kompromiss deutet sich an, dass die EU die vereinfachte Erteilung von Visa aufkündigt, auf die sie sich 2007 mit Russland verständigt hatte.
Sanktionen sind ein Abnutzungskrieg
Das eigentliche Problem wird damit jedoch nicht gelöst, im Gegenteil, es wird fortgeschrieben: Mit ständig neuen Sanktionsdebatten redet die EU sich selbst klein – und Russland groß. Schließlich implizieren hektische Forderungen nach Nachbesserungen das Scheitern der bisherigen Politik. Doch ein Scheitern lässt sich nur dann bilanzieren, wenn die überzogenen Erwartungen aus den ersten Kriegswochen als Gradmesser herangezogen werden.
Die Aussicht darauf, Russland in einem ökonomischen Blitzkrieg in die Knie zu zwingen, war genauso unrealistisch wie der Kremlplan von einem Regimewechsel in Kiew. Die Realität ist ein Abnutzungskrieg – geführt mit schweren Waffen im Donbass und im Süden der Ukraine sowie mit Sanktionen und Gegensanktionen auf den Märkten für Rohstoffe und Technologie.
Dafür braucht es Durchhaltevermögen, keinen Alarmismus. Europas Sanktionen zeigen Wirkung, zumindest jene, die den Technologietransfer nach Russland beschneiden. Ausgerechnet ein Indikator, der gern als Beleg für die Resilienz der russischen Wirtschaft genutzt wird, belegt das: der russische Außenhandelsüberschuss, also die Differenz zwischen Einnahmen aus Exporten und Ausgaben für Importe.
Russland hat zwar wenig Mühe, Abnehmer für seine Rohstoffe zu finden. Indien und China kaufen ein, was EU und USA verschmähen. Die Rabatte, die Moskau gewähren muss, werden durch den Anstieg des Ölpreises kompensiert. Die gerade in Deutschland mit Furor diskutierten Rohstoffsanktionen haben mithin wenig gebracht.






Aber: Der unerwartete russische Außenhandelsüberschuss, Analysten rechnen mit 250 Milliarden Dollar, mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr, ist kein Ausdruck wirtschaftlicher Stärke. Er beweist vielmehr, dass die russische Führung kaum Möglichkeiten hat, ihr eingenommenes Geld auszugeben – obwohl es dafür angesichts der hohen Verluste der Armee dringenden Bedarf gäbe.
Das westliche Embargo bedeutet, dass Russland keine Tech-Komponenten kaufen kann. Die Nachrüstung der kriegsgebeutelten Streitkräfte wird damit verhindert, die Kriegsmaschinerie des Kremls nachhaltig geschwächt. Europa steht ein schwieriger Winter bevor, Russland dauerhaftes Siechtum.
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