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GeoeconomicsEuropa braucht die US-Mittelstreckenraketen

Die Entscheidung zur Stationierung neuer Raketen aus den USA beunruhigt viele. Aber um Europa besser zu schützen und mehr Verteidigungsoptionen zu haben, ist sie notwendig.Claudia Major 19.07.2024 - 14:04 Uhr
Die Autorin: Claudia Major ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik. Foto: Klawe Rzeczy, Getty, PR

Ist der Kalte Krieg zurück? Seit Berlin und Washington letzte Woche bekannt gaben, dass die USA ab 2026 landgestützte konventionelle Waffensysteme in Deutschland stationieren wollen, wird diese Frage heiß diskutiert. Es geht um die Rakete SM-6, den Marschflugkörper Tomahawk und eine Hyperschallwaffe, die noch entwickelt wird. Sie haben eine größere Reichweite als die landgestützten Systeme, die es bislang in Europa gibt: Die Tomahawks sollen bis zu 2500 Kilometer weit fliegen können, könnten also Ziele in Russland treffen. Und ja, genau darum geht es.

Die Reaktionen auf die Ankündigung reichten von Entrüstung über bedrohliches Wettrüsten bis zu Erleichterung, dass endlich eine Lücke in Europas Verteidigung geschlossen wird. Tatsächlich ist beides richtig. Denn natürlich wäre es wünschenswert, wenn man diese Systeme nicht bräuchte und abrüsten könnte.

Aber aus drei Gründen ist die Stationierung richtig:

Erstens: Die Nato hat eine Fähigkeitslücke, also sie kann bestimmte Dinge nicht, die Russland sehr wohl kann. Moskau hat in den letzten 20 Jahren massiv aufgerüstet. Dabei hat es einen zentralen Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur zerstört: den INF-Vertrag über landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen.

Den Vertrag hatten die USA und die Sowjetunion 1987 auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs geschlossen und er war ein Wendepunkt: Sie einigten sich, alle landgestützten Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) zu vernichten und keine neuen Waffen dieser Kategorie zu produzieren oder zu testen.

Aber spätestens 2019 sah die Nato genug Beweise, dass Russland trotzdem einen solchen Marschflugkörper entwickelt hatte. Angesichts des russischen Vertragsbruchs stiegen die USA aus dem Abkommen aus. Die Europäer hatten bislang zurückhaltend reagiert und selbst keine neuen landgestützten Systeme produziert.

Eine russische Atomrakete vom Typ Topol-M. Foto: dpa

Ihnen fehlen also eigene landgestützte Raketen größerer Reichweite, mit denen sie das Territorium eines Angreifers erreichen könnten. Russland hat daher einen Vorteil, dem die Europäer bislang wenig entgegensetzen können. Zumal Moskau weiterrüstet: Es hat nuklearfähige Iskander-Raketen und Kinshal-Hyperschallraketen in Kaliningrad stationiert und will russische Nuklearwaffen in Belarus aufstellen.

Zweitens: Die Stationierung ist eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Europäer erkennen an, dass ein Krieg in Europa ein realistisches Szenario ist. Denn aus russischer Sicht ist der Einsatz militärischer Gewalt nicht nur legitim, sondern auch effizient. Bislang hat Moskau die direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato vermieden – aber es bereitet sich darauf vor: Es hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, priorisiert die Rüstungsproduktion, bereitet die Gesellschaft auf Krieg vor und verfolgt eine Taktik der hybriden Nadelstiche gegen den Westen, inklusive Propaganda.

Drittens: Die Europäer ziehen Lehren aus dem russischen Vorgehen in der Ukraine. Und eine Lehre ist die große Bedeutung von Waffen, mit denen man weit ins gegnerische Hinterland zielen kann, zum Beispiel um Nachschub zu unterbrechen. Der russische Raketenkrieg in der Ukraine zeigt, dass diese Fähigkeit zentral für Abschreckung und Verteidigung ist. Flugabwehrsysteme reichen nicht, um Nato-Territorium zu schützen, zum Beispiel vor Angriffen auf kritische Infrastruktur. So hart es klingt: Im Ernstfall müssen Nato-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese Nato-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen.

Es geht also einerseits um klassische Abschreckung: Die Stationierung dieser Systeme, die im Ernstfall Ziele im russischen Hinterland treffen können, soll Moskaus Kalkül beeinflussen. Das Bündnis signalisiert so, dass ein Angriff sich nicht lohnt, weil die Kosten für Moskau höher wären als der erhoffte Gewinn. Es geht aber auch darum, im Ernstfall eine nukleare Eskalation unwahrscheinlicher zu machen: Sollte Russland angreifen, dann hat die Nato dank dieser konventionellen Systeme zusätzliche Handlungsoptionen im Eskalationsmanagement unterhalb der nuklearen Schwelle. So mag die Neustationierung auf den ersten Blick nach erhöhter Gefahr klingen, könnte das nukleare Risiko aber sogar senken.

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Die harsche russische Reaktion war daher vorhersehbar. Moskau hat verstanden, dass seine Drohungen nun an Gewicht verlieren, Angriffe schwieriger werden und es weniger Eskalationsmöglichkeiten hat. Und noch eine Botschaft der geplanten Stationierung ist wichtig: Die USA bleiben in Europa – falls nicht eine neue US-Regierung nach den Wahlen alles noch einmal verwirft. Auch deshalb haben Frankreich, Deutschland, Italien und Polen letzte Woche angekündigt, selbst weitreichende Präzisionswaffen zu entwickeln.

Mehr: Europas Alternative zum „Tomahawk“ – das plant die Industrie

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