Globale Trends: „Die neue Insel der Stabilität“ in Europa?

Entscheidet sich Europas Schicksal in Großbritannien? Die Frage ist gar nicht so abwegig, wie sie acht Jahre nach dem Brexit-Referendum des Vereinigten Königreichs und dem Abschied aus der EU erscheint. Behalten die Meinungsforscher recht, könnte Frankreich in 14 Tagen von Rechtspopulisten der Partei Rassemblement National (RN) regiert werden, während sich die Briten für eine Mitte-links-Regierung der Labour-Partei entscheiden.
In Westeuropa ist das britische Votum ein Novum:
Eine Labour-Regierung in London wäre nicht nur die letzte Bastion der alten Mitte, die sich dem Rechtstrend entgegenstellt. Nach Ansicht von Shahab Jalinoos, Analyst bei der Schweizer Großbank UBS, könnte Großbritannien nach einem Regierungswechsel vom „Problemkind“ zu einer wirtschaftlichen „Insel der Stabilität“ in Europa werden.
Mit dem Wahlkampfslogan „Stabilität ist Wandel“ steht Labour-Chef Keir Starmer kurz davor, der Regierungschef mit der größten Mehrheit in einer westlichen Demokratie zu werden. Das gibt ihm politischen Einfluss weit über die britischen Grenzen hinaus, macht sein Schicksal aber auch wegweisend für den Rest Europas.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Großbritannien zum Wegweiser wird: Margaret Thatcher leitete in den 1980er-Jahren eine neoliberale Ära ein, Tony Blair suchte Ende der 1990er-Jahre zusammen mit Gerhard Schröder nach dem „Dritten Weg“. Diesmal steht noch mehr auf dem Spiel. Scheitert Starmer, scheitern auch die Hoffnungen jener, die Großbritannien und Europa vor einem Rechtsruck und populistischer Instabilität bewahren wollen.
Rechte Opposition formiert sich neu
Dabei ist das Königreich keineswegs von der nationalpopulistischen Pandemie verschont geblieben. Das Brexit-Referendum war vielmehr der erste von Populisten entfachte Aufstand sich abgehängt fühlender Wutbürger gegen das Establishment. Zwar verhinderte das britische Mehrheitswahlrecht bislang, dass die rechtspopulistische „Reform UK“-Partei von Nigel Farage, die zugleich politische Erbin der Brexit-Bewegung ist, politischen Einfluss im Parlament in Westminster gewinnen konnte.
Mit einem landesweiten Stimmenanteil von derzeit etwa 16 Prozent könnte Reform UK jedoch stark genug werden, um die regierenden Konservativen von Premierminister Rishi Sunak im Zweikampf gegen Labour entscheidend zu schwächen und den Tories so eine vernichtende Wahlniederlage beizubringen.
In London haben bereits Planspiele begonnen, wie Farage seine Reform UK und die Restbestände der rechten Tories nach der Wahl am 4. Juli zu einer neuen rechtspopulistischen Partei zusammenführen könnte.
Selbst wenn Labour die Parlamentswahl dank des Mehrheitswahlrechts mit einer „Super-Mehrheit“ von mehreren Hundert Parlamentssitzen gewinnen sollte, ist das Inselreich damit nicht immun gegen nationalpopulistische Verführer vom rechten Rand. Daran ändert auch der Brexit-Kater nichts, der sich wie politischer Mehltau über das Land gelegt hat. Populismus wird vermutlich nie besiegt, sondern immer nur zurückgedrängt.
Labour-Experiment strahlt nach Europa aus




Dass Sozialdemokraten und Tories zusammen vermutlich nur noch so wenig Wähler wie nie zuvor in der alten Mitte vereinigen können, zeigt, wie fragil die politische Landschaft auch in Großbritannien geworden ist. Das Vertrauen der Wähler in das politische System des Königreichs befindet sich nach einer neuen Studie des National Centre for Social Research auf einem Tiefstand.

Labour-Chef Keir Starmer wird deshalb nicht wie Tony Blair 1997 auf einer Welle von Aufbruchsstimmung und Euphorie nach 10 Downing Street getragen. So breit, wie die Unterstützung für Labour im Moment erscheint, so flach ist sie auch. Das birgt die Gefahr, dass die Stimmung nach den ersten Enttäuschungen über einen Premierminister Starmer schnell umschlagen könnte. Fallstricke für eine Labour-Regierung gibt es genug, vom ungelösten Umgang mit illegalen Einwanderern bis zur ungeklärten Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen.
Der Rest Europas sollte dennoch den britischen Versuch, gegen den rechten Strom zu schwimmen, aufmerksam beobachten. Dass die Anhänger eines vereinten Europas der Mitte acht Jahre nach dem Brexit-Referendum jetzt Trost auf der abtrünnigen Insel suchen müssen, ist schon eine bemerkenswerte Laune der Geschichte.





