Globale Trends Trotz dramatischer Engpässe: Deutsche Firmen halten an ihren Lieferketten fest

Nach einem Corona-Fall wurde der Betrieb am Container-Terminal im chinesischen Hafen Ningbo gestoppt.
Im Maschinenraum der Weltwirtschaft leuchten mal wieder die Warnlampen: Die Behörden in der ostchinesischen Provinz Zhejiang stoppten in der vergangenen Woche den Betrieb am Containerterminal Meidong, nachdem sich im Großhafen von Ningbo Zhoushan ein Hafenarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Ningbo ist immerhin der drittgrößte Containerhaften der Welt. Ende Mai hatte China wegen neuer Infektionen bereits den Güterumschlag im Hafen von Yantian in Shenzhen für einen Monat unterbrochen.
Die Nadelstiche der Pandemie senden bereits neue Schockwellen durch das Nervenzentrum der Weltwirtschaft: In Los Angeles, dem größten Containerhafen an der amerikanischen Westküste, stellt man sich auf neuerliche Zerreißproben der globalen Lieferketten ein.
Umso erstaunlicher scheinen die Ergebnisse einer neuen Studie, die das Ifo-Institut im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stifung durchgeführt hat. Unter dem Titel „Internationale Wertschöpfungsketten – Reformbedarf und Möglichkeiten“ kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der deutschen Unternehmen trotz wachsender Lieferrisiken durch Pandemie, Cyberattacken, Klimawandel und geopolitischer Konflikte ihre Beschaffungsstrategie nicht ändern will. Schläft der deutsche Michel mal wieder, während das wirtschaftliche Fundament gerade Risse bekommt, auf das auch sein Exportmodell gebaut ist?
Auf den ersten Blick haben die deutschen Firmenlenker gute Argumente, trotz aller Gefahren auf der Beschaffungsseite nicht in Panik zu verfallen und globale Lieferketten leichtfertig zu kappen. So bestehen im Güterhandel nur bei fünf Prozent aller Importe Abhängigkeiten von ausländischen Zulieferern, die im Notfall nur schwer durch heimische Produktion ausgeglichen werden können. Und drei Viertel dieser abhängigen Güter werden aus anderen EU-Ländern bezogen. Das klingt erst einmal beruhigend.
Hinzu kommt, dass durch eine umfassende Produktionsverlagerung zurück in die Heimat die Effizienzvorteile der internationalen Arbeitsteilung schwinden und das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut Ifo-Studie um bis zu zehn Prozent sinken könnte. „Gesamtwirtschaftlich gibt es keinen ökonomisch sinnvollen und erklärbaren Grund, weshalb Deutschland Produktionsprozesse zurück ins Inland holen sollte“, heißt es dort.
Die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft ändern sich
Ist also „just-in-time“ doch das bessere Rezept für die Zeit nach der Pandemie als „just-in-case“, und das ganze industriepolitische Gerede von „strategischer Autonomie“ und „Decoupling“ ist nicht mehr als ein populistischer Reflex verunsicherter Politiker?
Nicht ganz. Zum einen orientiert sich die Ifo-Studie an der aktuellen Struktur der deutschen Wirtschaft. Das heißt, im internationalen Vergleich ein immer noch hoher Industrieanteil mit erheblichen Rückständen bei der Digitalisierung und ein unterentwickelter digitaler Dienstleistungssektor. Das kann und wird so nicht bleiben.
Mit dem fortschreitenden digitalen Wandel werden sich auch die Bedürfnisse der deutschen Firmen für Zulieferungen aus dem Ausland ändern. Mit anderen Worten: weniger Rohstoffe wie Erze und Vorprodukte aus der Mineralölverarbeitung und mehr Computerchips, pharmazeutische Inhaltsstoffe und seltene Metalle wie Lithium. Noch wichtiger ist das technologische Know-how in Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz und digitaler Infrastruktur wie 6G. Wir brauchen keine strategische Reserve von Produkten des 20. Jahrhunderts, sondern ein Basis-Camp für das 21. Jahrhundert.
Industriepolitik wird zum Copiloten
Auch die Ifo-Wissenschaftler haben die künftigen Lieferrisiken auf ihrem Radar ausgemacht und empfehlen neben einer stärkeren Diversifizierung bei der Beschaffung, mithilfe neuer Handelsabkommen die kritischen Lieferketten besser abzusichern. Staatliche Eingriffe soll es nur in Ausnahmefällen und unter Aufsicht der Welthandelsorganisation WTO geben.
Das ist ökonomisch ebenso wünschenswert wie politisch unrealistisch. Unter dem Etikett „Industriepolitik“ ist der Staat in Europa, China und den USA längst zum Copiloten der Wirtschaft geworden. Anstelle der „unsichtbaren Hand“ eines Autopiloten steuern immer öfter die Industriepolitiker die globalen Lieferketten.
Wenn der industriepolitische Geist erst einmal aus der Flasche ist, bekommt man ihn kaum dahin zurück. Insbesondere wenn er nach der Pfeife der Machtpolitik tanzt. Mit ökonomischer Vernunft lässt er sich jedoch zumindest bändigen.
Mehr: Lieferengpässe machen Boom der deutschen Wirtschaft unwahrscheinlicher
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