Kolumne – „Globale Trends“ Warum die Märkte die Angst vor der Verschuldung verlieren
Schulden machen hat einen schlechten Ruf. Die Schuldenbremse ist der wohl stärkste Ausdruck einer tief verwurzelten Abneigung gegen das Leben auf Pump in der deutschen Psyche. In den USA haben Schulden schon deshalb einen anderen Klang, weil es dort nicht die Wortverwandtschaft zur moralischen Schuld gibt.
Aber auch in Amerika gibt es eine Schuldengrenze, die regelmäßig überschritten und dann nach einem heftigen politischen Schlagabtausch wieder angehoben wird. Der inzwischen fast zur Politroutine verkommene Prozess hat in den vergangenen Jahren immer wieder zu einem „Shutdown“ der Regierungsmaschinerie in Washington geführt.
Jetzt ist es wieder so weit: Seit dem 1. August gilt die 2019 ausgesetzte Schuldengrenze von aktuell rund 28,5 Billionen Dollar. Bleibt es bei den ehrgeizigen Ausgabenplänen von US-Präsident Joe Biden, der sich nicht nur mit einem kreditfinanzierten Konjunkturprogramm gegen die von der Pandemie verursachte Wirtschaftskrise stemmt, sondern mit viel Geld auch die Infrastruktur und den Sozialstaat in den USA modernisieren möchte, wird die Schuldenlatte nach Voraussage des Internationalen Währungsfonds noch in diesem Jahr gerissen.
Gerade hat das parteiunabhängige Haushaltsbüro des Kongresses vorausgesagt, dass Bidens Infrastrukturpaket in den kommenden zehn Jahren die Defizite im Bundeshaushalt um weitere 256 Milliarden Dollar nach oben treiben werde.
Also muss die Schuldenlatte höher gehängt werden – sonst sind spätestens im November die Regierungskassen leer. 78 Mal hat der Kongress die Schuldengrenze seit 1960 bereits erhöht. Dabei spielte es kaum eine Rolle, ob Demokraten oder Republikaner gerade an der Regierung waren. Das vom deutschen Ökonomen Adolph Wagner im 19. Jahrhundert entdeckte Gesetz wachsender Staatsausgaben hat auch den Schuldenberg in Amerika stetig wachsen lassen.
Trotzdem bleiben die Akteure an den Finanzmärkten gelassen. Schulden scheinen während der Pandemie nicht nur in den USA etwas von ihrem Schrecken verloren zu haben. Obwohl die weltweiten Staatsschulden nach Angaben des Institute of International Finance (IIF) von rund 88 Prozent auf 105 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung gestiegen sind, hat das die Finanzmärkte kaum erschreckt.
Niedrige Zinsen verführen zum Schuldenmachen
Die langfristigen Zinsen sind immer noch historisch niedrig. So sind die Zinsen für 30-jährige Bundesanleihen in der vergangenen Woche ins Negative gefallen und haben damit die gesamte Zinskurve deutscher Staatsschulden unter die Nulllinie gezogen. Mit anderen Worten: Der deutsche Staat bekommt für seine Kreditaufnahme noch Geld hinterhergeworfen. Selbst die langfristigen Zinsen für inflationsbereinigte Staatsanleihen sinken.
Je größer die Schulden, desto geringer scheinen die Kosten zu sein. Japan ist dafür ein gutes Beispiel: Obwohl die Staatsschulden dort inzwischen zweieinhalbmal so hoch sind wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP), zahlt die japanische Regierung dafür nicht mehr Zinsen als Mitte der 1980er-Jahre, als der Schuldenstand nur zwei Drittel vom BIP entsprach.
Zu verdanken sind die niedrigen Zinsen unter anderem einem weltweiten Überschuss von Ersparnissen, die der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke schon 2005 unter dem Namen „Global Savings Glut“ entdeckt hatte. Da es dank der Integration Chinas in die globalisierte Weltwirtschaft lange Zeit auch billige Arbeitskräfte in Hülle und Fülle gab, blieb die Inflation gering, und die wirtschaftlichen Wachstumsraten in vielen Ländern lagen über den Zinssätzen, die sie für ihre Schulden zahlen mussten.
Wie lange das so bleibt und wann es Zeit ist, auf die Schuldenbremse zu treten, ist die derzeit wohl am heißesten diskutierte Frage unter Ökonomen und Wirtschaftspolitikern. Die meisten Volkswirte sind sich zumindest darin einig, dass kein Land unbegrenzt Schulden machen kann. Diese Einsicht hilft allerdings kaum, um den richtigen Zeitpunkt für einen Kurswechsel in der Finanzpolitik zu bestimmen.
Europa streitet über Rückkehr zum Stabilitätspakt
In Europa konzentriert sich die Schuldendebatte darauf, wann die während der Pandemie bis 2022 ausgesetzten Stabilitätsregeln des Maastricht-Vertrages wieder gelten sollen. Die durch die Coronakrise noch weiter gestiegene Staatsverschuldung ließe sich kurzfristig jedoch nur durch große und anhaltende Haushaltsüberschüsse wieder unter die Maastricht-Linie von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts drücken. Dies wiederum birgt die Gefahr einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale, in der eine mögliche Rezession die Staatsschuldenquote in die Höhe treiben würde, weil sie deren Nenner schrumpfen ließe.
Es spricht deshalb viel dafür, dass Europa mit einem Kurswechsel zu einer restriktiven Finanzpolitik etwas länger warten kann als Amerika.
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