Industriestrategie: Warum Staaten auf eine aktive Wirtschaftspolitik setzen

Als es in Ländern des Westens noch einen wirtschaftsliberalen Konsens gab, galt der Begriff „Industriepolitik“ als Schimpfwort für einen interventionistischen Lenkungsanspruch des Staates.
Geändert hat sich das während der US-Präsidentschaft Joe Bidens. Er stellte die Industriepolitik ins Zentrum, um den industriellen Niedergang Amerikas aufzuhalten. Sein Nachfolger Donald Trump versucht die Reindustrialisierung nun mit globalen Importzöllen brachial durchzusetzen.
Inzwischen hat fast jede westliche Industrienation ihre eigene Industriestrategie. Verschiedene Bundesregierungen in Deutschland haben seit 2019 gleich zwei Entwürfe vorgelegt. Die Europäische Union (EU) stellte ihre 2020 vor und passte sie in den Folgejahren an.
Strategisch wichtig ist, was Wachstum verspricht
Aufgrund seiner wirtschaftsliberalen Tradition tat sich der britische Staat lange schwer, die Industrie zu lenken. Die Mitte-links-Regierung von Labour und Premierminister Keir Starmer hat jedoch diese Woche ihren Masterplan für die britische Industrie vorgelegt.
Gemeinsam ist den meisten Industriestrategien, dass sie eine Zahl von Schlüsselbranchen ausfindig machen, die als Wachstums- und Innovationsmotoren für die gesamte Wirtschaft gelten und deshalb vom Staat besonders gefördert werden sollen.
Dass die Briten dazu gleich drei klassische Servicebranchen zählen, ist angesichts ihrer Stärken bei Finanz- und Unternehmensdienstleistungen sowie in der Kreativwirtschaft zwar naheliegend. Der Etikettenschwindel verdeckt aber auch die Tatsache, dass das verarbeitende Gewerbe in Großbritannien nur etwa zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung beiträgt, während es in Deutschland etwa 20 Prozent sind.
Trotz der strukturellen Unterschiede gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. So will London wie Berlin die hohen Strompreise für energieintensive Industriebranchen senken und den Fachkräftemangel durch einen Mix aus gezielter Zuwanderung und heimischer Ausbildung mindern. Überprüft und gegebenenfalls gelockert werden soll hingegen das strenge Kontrollregime in 17 Industriebereichen, in denen Übernahmen durch ausländische Investoren als sensibel für die nationale Sicherheit betrachtet werden.
Hayeks Wissensproblem
Wirtschaftsliberale Puristen mögen sich fragen, woher der Staat überhaupt wissen will, welche Industriezweige in zehn Jahren entscheidend für die Zukunft und den Wohlstand des Landes sein sollen.
Die Briten haben das vom Ökonomen Friedrich August von Hayek als fundamentale „Unwissenheit“ beschriebene Problem ganz pragmatisch gelöst und einfach das in den vergangenen acht Jahren produktivste Drittel der Wirtschaft zu ihren Zukunftsindustrien erklärt. Diese Branchen waren für etwa 60 Prozent des Produktivitätswachstums in Großbritannien zwischen 1997 und 2022 verantwortlich. Dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität in der britischen Wirtschaft seit der Finanzkrise 2008 stagniert, verhinderten allerdings auch diese „Superstars“ nicht.






Die staatlichen Industriestrategen sind deshalb gut beraten, ihre Zehn-Jahres-Pläne so flexibel zu gestalten, dass sie auf Innovationen und Verschiebungen in der Wirtschaft reagieren können. Das von Hayek beschriebene Wissensproblem bedeutet umgekehrt jedoch nicht, dass der Staat völlig ahnungslos in die Zukunft schaut. Sonst ließe sich nicht erklären, warum viele der wichtigsten technologischen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte wie etwa das Internet durch staatliche Initiativen angestoßen wurden.
Die geoökonomische Rivalität der großen Wirtschaftsmächte, die allzu oft das marktwirtschaftliche Entdeckungsverfahren bremst und verzerrt, macht zudem einen industriepolitisch aktiven Staat unumgänglich.
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