Kolumne – Asia Techonomics: Schlafen, essen, Filme schauen: In China wird das Auto zum zweiten Wohnzimmer

In der wöchentlichen Kolumne schreiben Handelsblatt-Korrespondenten im Wechsel über Innovations- und Wirtschaftstrends in Asien.
Bei der Automesse in Schanghai Mitte April zeigten sich mindestens zwei Dinge, auf die sich noch ein zweiter Blick lohnt. Das erste sprang einem sofort ins Auge: die Zurschaustellung der großen Wucht, mit der chinesische Unternehmen auf den Markt mit Elektroautos drängen – verkörpert nicht nur durch die schiere Zahl der Stände der hiesigen etablierten und neuen E-Auto-Anbieter.
Symbolhaft für die Goldgräberstimmung in der Branche ist der hochverschuldete Immobilienkonzern Evergrande. Der produziert jetzt auch Autos, natürlich mit Elektroantrieb. Und er hatte sein Debüt auf der Messe nicht mit einem, sondern gleich mit neun Modellen. Unter Begleitung von wummernden Bässen wurden die Fahrzeuge vorgestellt.
Die zweite Beobachtung kam etwas unauffälliger daher. XPeng, oder auch Xiaopeng, ein chinesisches Elektroauto-Start-up, war ebenfalls unter den vielen Herstellern, die ihr neuestes Modell präsentierten. Während der Vorstellung zeigte Gründer He Xiaopeng ein Video, mit dem er für sein neuestes Auto warb.
Doch die Hauptbotschaft lag nicht etwa auf Batteriereichweite oder Beschleunigungszeit, sondern sie lautete: Ihr könnt in eurem Auto essen, Filme schauen und schlafen.
„Wir sehen oft, dass unsere Mitarbeiter ein Nickerchen machen während der Mittagspause“, erklärte er. Am liebsten, so He, würden sie in ihrem Auto schlafen. Mit dem Verbrennungsmotor sei das früher gefährlich gewesen. Aber heute ginge es, dank des Elektroantriebs.

Das Auto soll zum „dritten Raum“ neben dem Zuhause und dem Büro werden.
Er habe Freunde zudem dabei beobachtet, wie sie Filme in ihrem Auto schauen. Während der Corona-Pandemie aßen sie dann noch Mittag- und Abendessen in ihren Fahrzeugen. Das Auto werde zum „dritten Raum“, neben dem Zuhause und dem Büro, glaubt He.
Xiaopeng will Auto zum „dritten Lebensraum“ machen
In seinem Werbevideo zeigte das Unternehmen zu sanfter Jazzmusik, wie ein junger Mann im Anzug von innen die Fenster des Fahrzeugs abdunkelt und eine Flasche Wasser aus dem eingebauten Kühlschrank auf der Rückbank holt.
Die nächste Einstellung zeigt das Auto im Dämmerlicht. Die Sitze fahren ganz zurück, sodass zusammen mit der Rückbank eine Liegefläche entsteht. Der Mann trägt inzwischen einen Schlafanzug, liegt entspannt auf dem Rücken und schließt schließlich die Augen.
Die Strategie von Xiaopeng – die auch andere Autohersteller verfolgen – hat zwei Gründe: Zum einen ist es in China durchaus üblich, nahezu überall ein kleines Nickerchen zu halten. Im Möbelhaus etwa. Oder auf dem Elektroroller am Straßenrand. Oder unter Hochstraßen im Auto.
Weil insbesondere in den großen Städten wie Peking und Schanghai Wohnraum knapp ist, ist das Auto oft die einzige Rückzugsmöglichkeit zwischen Büro und dem meist engen Zuhause, wo schon die Familie wartet.

Zum anderen ist es die große Konkurrenz, die die Hersteller dazu treibt, sich Alleinstellungsmerkmale zu überlegen. Mehr als 100 Elektroautohersteller kämpfen derzeit um die Gunst der chinesischen Käuferschaft. Und diese wächst zwar, ist aber derzeit noch sehr klein, gemessen am gesamten Automarkt.
Äußerlich ähneln sich die Autos mittlerweile bereits so sehr, dass man sie manchmal nur an dem Logo erkennen kann. Auch die technische Ausstattung unterscheidet sich in den jeweiligen Preisklassen kaum.
Xiaopeng ist mit seinem Ansatz, das Auto zum „dritten Lebensraum“ zu machen, nicht allein. Auch Konkurrent Li Auto, ein Pekinger E-Auto-Start-up, setzt darauf. Sein Fahrerraum ähnelt eher einem kleinen Kino als dem Innenraum eines Autos – insbesondere aus der Perspektive des Beifahrers.
„Vampire Diaries“ in gestochen scharfer Bildqualität mit Surround-System? Bitteschön: Vor dem Beifahrersitz befindet sich ein Bildschirm, auf dem die größten Blockbuster geschaut werden können. Sogar Karaoke singen kann man mit der Anlage.

Die Hersteller wollen sich vor allem über die Innenausstattung von der Konkurrenz absetzen.
Bislang ist das sogenannte „In-Car-Entertainment“, zu dem bei manchen Herstellern Videospiele gehören oder bei anderen eine große Auswahl an Podcasts, entweder nur den Beifahrern vorbehalten, oder der Fahrer muss anhalten, um es zu nutzen.



Doch je näher die Industrie ihrem Traum vom autonomen Fahren kommt, desto wichtiger werden die technischen Einrichtungen im Auto werden. Jene Hersteller, die diese jetzt schon entwickeln, könnten dann einen Vorteil haben.
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