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Kolumne „Globale Trends“Schäuble jagt die Inflation und findet Keynes

Noch ist es zu früh, den Kurs in der Fiskal- und Geldpolitik zu ändern. Gerade die europäische Wirtschaft hat noch Luft nach oben.Torsten Riecke 07.06.2021 - 09:55 Uhr Artikel anhören

Es sollte Schäuble & Co. zu denken geben, dass keine führende Notenbank im Moment Gefahr im Verzuge sieht.

Foto: dpa

Ein Gespenst geht um in der Weltwirtschaft – und diesmal ist es nicht der Kommunismus, sondern die Inflation. Dass Wolfgang Schäuble in einem Gastbeitrag für die „Financial Times“ ausgerechnet John Maynard Keynes als „Ghostbuster“ zur Hilfe ruft, zeigt, wie groß die Inflationsängste vor allem in Deutschland sind.

Bislang waren weder Schäuble, der als ehemaliger Bundesfinanzminister in Europas Schuldenkrise eine harsche Austeritätsmedizin verordnete, als Keynesianer noch der britische Weltökonom als Inflationsjäger bekannt. Ob die Sorgen des heutigen Bundestagspräsidenten berechtigt sind, ist damit aber noch nicht ausgemacht.

In Deutschland stieg das Preisniveau zuletzt um 2,5 Prozent, in der Euro-Zone waren es zwei Prozent, im OECD-Duschschnitt 3,3 Prozent und in den USA gar 4,2 Prozent. Ist das nun schon ein Inflationsgalopp, oder jagen Schäuble und seine „Falken“ einer Schimäre nach, die sich in Luft auflöst, sobald die Wirtschaft den aus der Pandemie aufgestauten und durch Konjunkturprogramme zusätzlich befeuerten Nachfrageschub verarbeitet hat?

Die Antwort auf diese Frage ist ebenso schwierig wie schicksalhaft. Wendepunkte im Wirtschaftsgeschehen lassen sich kaum genau bestimmen, was die Sache so gefährlich macht. Tritt man mit der Fiskal- und Geldpolitik zu spät auf die Inflationsbremse, laufen einem die Preise davon. Steuert man mit Sparmaßnahmen und Zinserhöhungen zu früh dagegen, riskiert man eine erneute Rezession. Es ist also Vorsicht geboten – in beide Richtungen.

Hinzu kommt, dass Inflationsdebatten in Deutschland oft von den kollektiven Erinnerungen an die Hyperinflation in den 1920er-Jahren emotional aufgeladen werden. Andere Erfahrungen und Meinungen aus dem Ausland werden sehr schnell als Angriff auf die deutsche Stabilitätskultur gebrandmarkt.

Dabei sollte es Schäuble & Co. zu denken geben, dass keine führende Notenbank im Moment Gefahr im Verzuge sieht. „Es ist zu früh, die Alarmglocken wegen der Inflation zu läuten", sagt OECD-Chefökonomin Laurence Boone. Das bedeute jedoch nicht, dass man die Preisfront aus den Augen lassen könne.


Europas Wirtschaft kann den Nachfrageschub verarbeiten

Vor allem zwei Dinge gilt es zu beobachten: den sogenannten „Output-Gap“ und die Entwicklung der Löhne. Die Lücke zwischen tatsächlicher und maximaler Auslastung der US-Wirtschaft beträgt nach Schätzungen des parteiunabhängigen Haushaltsbüro im Kongress immer noch etwa zwei Prozentpunkte. In Europa dürfte der negative „Output-Gap“ nach Meinung der meisten Ökonomen jedoch deutlich größer sein, da hier das Wachstum während der Pandemie weitaus stärker eingebrochen ist als in Amerika.

Insbesondere die europäische Wirtschaft hat also noch viel Luft nach oben, um eine stark steigende Nachfrage ohne nachhaltige Preissteigerungen zu befriedigen. Engpässe wie bei Microchips, Holz und anderen Rohstoffen sind demnach nur vorübergehend und widersprechen dem Gesamtbild nicht.

Handelsblatt-International-Correspondent Torsten Riecke analysiert jede Woche in seiner Kolumne interessante Daten und Trends aus aller Welt. Sie erreichen ihn unter riecke@handelsblatt.com.

Foto: Klawe Rzeczy

Kniffliger ist die Frage, ob es durch Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt zu einer Lohn-Preis-Spirale kommen könnte, bei der Arbeitnehmer versuchen, die steigende Inflation durch höhere Lohnforderungen auszugleichen. Im Zuge der Globalisierung hat ein Millionenheer von billigen Arbeitskräften vor allem aus Asien die Löhne und Preise in den Industrieländern in Schach gehalten. Neue Handelsschranken und der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel haben diesen Trend gebremst.

Die Kurven auf den Arbeitsmärkten verlaufen jedoch diesseits und jenseits des Atlantiks sehr unterschiedlich: Während die Arbeitslosenquote in den USA gerade auf 5,8 Prozent gesunken ist, die Löhne steigen und Arbeitgeber händeringend nach Mitarbeitern suchen, verharrt die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone bei acht Prozent. Inflationäre Lohnsteigerungen sind in diesem Umfeld in der EU kaum durchsetzbar.


EZB-Direktorin Schnabel warnt vor verfrühtem Kurswechsel

Die Europäische Zentralbank, die sich diese Woche zu ihrer nächsten Sitzung trifft, sieht deshalb auch noch keinen Grund, einen Kurswechsel in ihrer lockeren Geldpolitik einzuleiten. „Eine verfrühte Rücknahme entweder der fiskalischen oder der geldpolitischen Unterstützung wäre ein großer Fehler“, warnte kürzlich die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel.

Einen solchen Kurswechsel fordern jedoch Schäuble und seine „Ghostbuster“ lieber heute als morgen. Dass er für seine Jagd auf Inflation und Schulden die US-Ökonomen Larry Summers und Olivier Blanchard einspannt, gehört zu den Kuriositäten der nicht immer rational und ganz fair verlaufenden Debatte: Die beiden Keynesianer warnen vor einem nachhaltigen Preisschub – aber nur in den USA und ausdrücklich nicht in Europa.

Vielleicht fällt es dem gelernten Juristen Schäuble auch nur schwer, die von ihm verinnerlichten und aus einer anderen Zeit stammenden Maastricht-Kriterien an die komplexere wirtschaftliche Wirklichkeit von heute anzupassen. Dass er sich dabei auch noch auf Keynes beruft, ist nicht ohne Ironie: War es doch der britische Ökonom, der den legendären Satz prägte: „When the facts change, I change my mind. What do you do, sir?“

Verwandte Themen Wolfgang Schäuble USA Deutschland EZB OECD Europa

Vielleicht hat Schäuble aber auch nur Milton Friedman gelesen. Der stellte schon Mitte der 1960er-Jahre fest: „Jetzt sind wir alle Keynesianer.“

Mehr: Der Mythos der Inflation.

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