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Kolumne „Kreative Zerstörung“Silicon Scientology: Wenn KI zur Ideologie wird

Im Silicon Valley entsteht eine Bewegung – auch wenn sie sich selbst nicht so nennt. Sie will KI vorantreiben. Das ist aber mehr Ideologie als Bewegung, meint Miriam Meckel. 24.10.2023 - 15:46 Uhr Artikel anhören

In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen.

Foto: Klawe Rzeczy

„Du lebst in einer geistesgestörten Zeit – geistesgestörter als sonst, denn trotz großer wissenschaftlicher und technologischer Fortschritte hat der Mensch nicht die geringste Ahnung, wer er ist und was er tut.“ So beginnt ein neues Pamphlet des US-amerikanischen Gründers und Investors Marc Andreessen. Die Zeilen stammen vom US-Schriftsteller Walker Percy, und sie könnten ganz gut beschreiben, was gerade in unserem Leben abgeht.

Wir haben mit Künstlicher Intelligenz eine Fortschrittstechnologie erfunden, und wir wissen nicht, wie wir sie richtig anwenden können, weil wir als Menschen nicht mal uns selbst verstehen.

Aber darum geht es Andreessen nicht. Er hat einen geradezu paradoxen Blick auf unsere Welt: Das Einzige, was uns allen auf dem Weg in die perfekte Welt im Wege stehe, sei die Realität, seien unsere Zweifel, Fragen und unsere Lahmarschigkeit.

Eine Art Beschleunigungswahn hat das Silicon Valley erfasst. Die Bewegung namens „Effective Accelerationism“ („e/acc“) will die Zukunft heute schon in Gegenwart verwandeln. Ihre Philosophie? Wir müssen Gas geben, um die KI als Technologie so schnell wie möglich voranzutreiben, ohne lästige Vorschriften, die uns bremsen. Angetrieben wird die Gruppe von laut zu vernehmenden Stimmen wie dem Amazon-Gründer Jeff Bezos, Gary Tan vom Gründerzentrum „Y Combinator“ und ... Marc Andreessen.

Im Manifest der Bewegung heißt es: „Effektiver Akzelerationismus ist die im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verwurzelte Überzeugung, dass das Universum selbst ein Optimierungsprozess ist, der Leben schafft und sich ständig ausdehnt. Der Motor dieser Expansion ist das Technokapital. Dieser Motor kann nicht gestoppt werden. Das Rad des Fortschritts dreht sich immer nur in eine Richtung. Zurückgehen ist keine Option.“

Mehr Ideologie als Reformbewegung

Innovation soll also ungeprüft und unhinterfragt voranschreiten dürfen, man kann ja über die Folgen reden, wenn sie eingetreten sind. In den Turboantriebsrädern dieser Bewegung wird die nuancierte Diskussion über die Chancen und Risiken von KI gnadenlos zermahlen.

Darüber lässt sich auch nicht diskutieren, macht das Manifest der Bewegung deutlich: „e/acc ist keine Ideologie. Es ist keine Bewegung. Es ist einfach ein Bekenntnis zur Wahrheit.“ Wenn eine Gruppe allein die Wahrheit kennt, werden wir stutzig. Das klingt dann doch mehr nach Ideologie als nach Reformbewegung: Silicon Scientology scheint auf dem Vormarsch zu sein.

„Wir werden angelogen“, schreibt Marc Andreessen in seinem „techno-optimistischen Manifest“. Wer uns anlügt, bleibt unklar. Aber es lässt sich vermuten, dass es Regierungen, Regulatoren und alle diejenigen sind, die sich trauen, mal eine Frage zu stellen, wenn es um unsere KI-basierte Zukunft geht. In jedem Fall gehören ethische Einwände und Vorgaben wie ESG laut Andreessen zu den Ursachen für unsere verpassten Chancen. Sie werden explizit erwähnt.

Der gesamte Text ist eine abenteuerliche Argumentationslinie, eine Mischung aus Utopismus, Libertarismus, Radikalisierung und Überheblichkeit, formuliert im biblischen Ton eines bevorstehenden Armageddon – nur dass nach dieser Sicht unsere derzeitige Realität die Katastrophe ist und KI und andere technologische Errungenschaften der einzige Weg sind, uns daraus zu retten.

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„Wir glauben an die Natur“, heißt es in Andreessens Text, „aber wir glauben auch an die Überwindung der Natur. Wir sind keine Primitiven, die sich aus Angst vor dem Blitz zusammenkauern. Wir sind die Spitzenprädatoren; der Blitz arbeitet für uns.“ Spitzenprädatoren, die höchsten Raubtiere? Wer ist da bitte „wir“?

Wahrscheinlich könnte es sich kaum jemand anderes als die großen „Macher“ des Silicon Valley erlauben, so einen gequirlten Mist zu verzapfen. Weiter gehts: „Schönheit existiert nur im Kampf. Es gibt kein Meisterwerk, das nicht einen aggressiven Charakter hat. Technik muss ein gewaltsamer Angriff auf die Kräfte des Unbekannten sein, um sie zu zwingen, sich dem Menschen zu beugen.“

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Silicon Valley: KI – die neue Scientology

Das klingt nach einer Mischung aus Leni Riefenstahl, George Orwell und Arnold Schwarzenegger. Oder so, als wäre Andreessen im Alter von 52 Jahren wieder in eine aggressive Pubertät zurückkatapultiert worden. Eine Zeit, in der man Science-Fiction und erste Gedichte liest und glaubt, Veränderung sei kein evolutionärer Prozess, sondern eine binäre Entscheidung.

Wenn man solche Texte liest, dann stimmt das nachdenklich. Denn das ist nur die Spitze einer Bewegung, die vornehmlich aus dem Silicon Valley kommt. In ihr wird KI zur neuen Scientology der differenzlosen Fortschrittsfanatiker. Ließen wir Menschen wie Marc Andreessen die Weichen für die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz allein stellen, hieße das, Prometheus zum ersten Feuerwehrmann zu machen. Kann mal jemand dem Mann ein Glas Wasser reichen?

Mehr: Kolumne „Kreative Zerstörung“ – Captcha fürs Menschsein 

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