Analyse Was Deutschland vom Kampf der USA gegen die neue Delta-Welle lernen kann

Während viele Großstadtbewohner den Impfnachweis stolz in der Tasche tragen, frisst sich das Virus durch Regionen mit vielen Impfverweigerern.
Washington Die USA sind das Land der Extreme. Das zeigt sich jetzt, in der vierten Welle der Covid-Krise, stärker denn je. Binnen Wochen hat sich die Zahl der Infektionen verzehnfacht, doch je nach Aufenthaltsort gibt es eine andere Realität.
Im US-Bundesstaat Florida, dem Epizentrum der aggressiven Delta-Variante, sind die Krankenhäuser so voll wie noch nie in der Pandemie. Anderswo wird gefeiert: 100.000 Besucher drängten sich gerade beim weltberühmten Festival Lollapalooza in Chicago, und Medienberichten zufolge will Ex-Präsident Barack Obama 500 Gäste zu seinem 60. Geburtstag einladen.
Man könnte sich über die Großveranstaltungen echauffieren. Doch wem nützt das im zweiten Jahr einer Pandemie, in der viele Menschen verständlicherweise etwas Alltag spüren wollen? Flächendeckende Lockdowns, machte US-Präsident Joe Biden klar, wird es in den USA nicht geben. Diese Entscheidung ist nicht verantwortungslos, sondern pragmatisch – die Wissenschaft weiß mehr über das Virus als im März 2020, als Covid die USA überrollte.
Statt Schulen und Fabriken reihenweise zu schließen, will die US-Regierung die Instrumente, die sich im Kampf gegen das Virus bewährt haben, konsequenter anwenden: In vielen Teilen der USA kehren die Masken zurück, das Impfen soll noch leichter werden, Covid-Tests kann man gefühlt an jeder Straßenecke machen. Dazu verlangen viele Unternehmen, Veranstalter oder Universitäten eine Impfpflicht. Übrigens warten sie dabei nicht auf eine „Ansage von oben“, sondern sie tun es einfach. In Sachen Flexibilität zeigen die USA einmal mehr, dass sie sich schnell an Krisen anpassen können.
Das bedeutet absolut nicht, dass die USA alles richtig machen. Biden wirkte in den vergangenen Wochen überrumpelt, er erlebt den ersten großen Rückschlag seiner Präsidentschaft. Seine Regierung hat Fehler gemacht, die andere Nationen vermeiden müssen, chaotische Kommunikation ist eines der Probleme. Viel zu früh lockerte die Gesundheitsbehörde CDC die Empfehlungen für das Tragen von Masken und erweckte damit den Eindruck, die Pandemie sei vorbei. Delta holte die USA wie viele andere Länder auf der Welt in die Realität zurück.
Eine andere wichtige Erkenntnis ist: Man kann sich gar nicht genug anstrengen, damit der Impfstoff in die Oberarme kommt. Es grenzt an Irrsinn, dass die Impfrate in den USA bei rund 60 Prozent der Erwachsenen stagniert, obwohl von Anfang an genug Vakzine verfügbar waren und man wirklich überall eine Impfung bekommen kann: im Supermarkt, in Sportstadien, in Kirchen.
Die Lager von Geimpften und Ungeimpften driften auseinander
Die Impfquoten in manchen Bundesstaaten – überwiegend ländlich, überwiegend konservativ – sind trotzdem erschreckend niedrig. Aktuell geht auch die Motivation in Deutschland zurück, sich immunisieren zu lassen. In den USA kann man beobachten, was passiert, wenn die Lager von Geimpften und Ungeimpften auseinanderdriften. Während viele Großstadtbewohner den Impfnachweis stolz in der Tasche tragen, frisst sich das Virus durch Regionen mit vielen Impfverweigerern.
Längst ist die Haltung zum Impfen zur Ideologie geworden, die Spritze wird von den Gegnern als Auswuchs eines „Meinungsdiktats“ abgelehnt. Der Streit über Maskenpflicht, Impfausweise und Wirkstoffe ist mittlerweile politisch so aufgeladen wie die Debatten um Abtreibung und Waffengewalt. Desinformation im Internet tut ihr Übriges.
Anders als in Deutschland braucht es keine Märsche sogenannter „Querdenker“, um dem Protest Ausdruck zu verleihen. In den USA sind es Republikaner-Chefs und Senatoren, also Politiker aus der ersten Reihe mit echter Macht, die Impfskepsis befeuern. Deshalb sollte man sich nirgendwo allein auf die Mahnkraft von Politikerinnen und Politikern oder Kulturschaffenden verlassen. Imagekampagnen sind nett, aber es wird immer Prominente geben, die zum Boykott der Schutzmaßnahmen aufrufen, und immer Menschen, die für Verschwörungstheorien empfänglich sind.
Andere Mittel sind effektiver: Flexibilität in der Wirtschaft, Anreize zum Impfen, eine Testpflicht, digitale Impfpässe, Aufklärung, ein Krisenplan für Schulen. Es lohnt sich, um die Unentschlossenen zu kämpfen – jeder Todesfall ist einer zu viel. Auch sollten selbst Geimpfte so lange wie möglich an der Maske festhalten. Nach allem, was man aktuell weiß, sind Durchbruch-Infektionen ein Risiko, wenn auch ein geringes. Aber die Maske ist ein kleiner Preis, wenn man ansonsten viele Freiheiten wiedererlangt.
Eine Impfpflicht würde nicht funktionieren
In der Pandemie zeigen die USA der Welt einmal mehr, wer sie wirklich sind. Die mächtigste Wirtschaftsnation ist zu Höchstleistungen fähig, sie hat sich doppelt so schnell aus dem Abschwung herausgekämpft wie nach der Finanzkrise 2008/2009. Gleichzeitig bleibt das Land tief gespalten und geprägt von hasserfüllter Rhetorik, auch nach der Abwahl von Donald Trump. Dazu missbrauchen zu viele Menschen das amerikanische Freiheitsideal: Die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, schränkt die Freiheit derjenigen ein, die es getan haben.
Eine Impfpflicht würde, zumindest in den USA, trotzdem nicht funktionieren, wahrscheinlich sogar das Gegenteil bewirken. Vertrauen in Wirkstoffe und den Staat lässt sich nicht verordnen – so bitter das auch ist für die Mehrheit der Menschen, die sich seit mehr als eineinhalb Jahren vorsichtig verhalten. Bidens neue Strategie könnte sich bald auszahlen. In den vergangenen Tagen hat das Impftempo erstmals seit Wochen wieder angezogen. Es ist ein Hoffnungsschimmer – für beide Seiten des Atlantiks.
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