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ChefökonomExportweltmeister a. D. – Deutschland muss sich neu erfinden

Der zunehmende globale Protektionismus stellt die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft vor gravierende Probleme. Das Gebot der Stunde wäre jetzt eine standortpolitische Offensive.Bert Rürup 16.08.2024 - 11:25 Uhr
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Containerterminal Bremerhaven: Das exportgetriebene Geschäftsmodell Deutschlands trägt nicht mehr. Foto: Sina Schuldt/dpa

Mit dem Rückzug von Joe Biden aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf sind die Chancen für eine zweite Amtszeit von Donald Trump gesunken. Doch die Hoffnung, dass es mit einem Wahlsieg von Kamala Harris zu einer Rückkehr der guten alten Zeit des Multilateralismus kommt, wäre gleichermaßen naiv und fahrlässig.

Denn auch eine Präsidentin Harris wird alles versuchen, den wirtschaftlichen und geopolitischen Aufstieg Chinas zu bremsen. Deutschland hat keine andere Wahl, als kluge Antworten auf das Auslaufen des 1990 begonnenen Globalisierungsschubs zu finden.

Der an die Bundesregierung gerichtete Teil des Lastenheftes lautet, Europa muss mehr in die Verteidigung der eigenen Sicherheit investieren. Dies wirkt angesichts der Bedrohung durch Russland wie eine Binsenweisheit.

Doch die jüngsten Haushaltsverhandlungen in Berlin haben gezeigt, wie begrenzt die finanziellen Ressourcen sind und wie schwer sich Koalitionsregierungen mit echten Einsparungen tun, also der Streichung klientelspezifischer Ausgaben zugunsten neuer Prioritäten.

Nunmehr 18 Quartale ohne Wirtschaftswachstum haben nicht nur in den Budgets der Konsumenten herbe Verluste hinterlassen, sondern auch in den öffentlichen Haushalten. Hätte das Bruttoinlandsprodukt seit dem Pandemieausbruch Anfang 2020 nicht stagniert, sondern real nur um ein Prozent pro Jahr zugelegt, dann wäre die gesamtwirtschaftliche Leistung dieses Jahr etwa 200 Milliarden Euro höher.

200
Milliarden
Euro höher wäre die gesamtwirtschaftliche Leistung in diesem Jahr, wenn das Bruttoinlandsprodukt seit 2020 nur um ein Prozent jährlich gestiegen wäre.

Der Staat würde fast 50 Milliarden Euro mehr an Steuern und ähnlich viel an zusätzlichen Sozialbeiträgen vereinnahmen – ausreichend Mittel, um nahezu alle Wünsche nach Landesverteidigung, sozialer Sicherheit, grüner Transformation und stabilen Staatsfinanzen zu finanzieren.

Der andere Teil der Herausforderung besteht darin, sich von der Hoffnung zu verabschieden, dass die gesamtwirtschaftlichen Probleme Deutschlands zyklischer Natur seien, sich also mit der Zeit von selbst lösen würden.

Seit dem Krisenbeginn im Jahr 2020 sagten nahezu alle Konjunkturprognosen der Bundesregierung – und auch jene vieler Konjunkturforschungsinstitute – regelmäßig für das kommende Halbjahr einen Aufschwung voraus. Sobald die Realität diese Hoffnungen zunichte machte, wurden sie um ein Halbjahr in die Zukunft verschoben.

Fahrzeuge von Volkswagen im Hafen von Emden: Der globale Protektionismus zwingt zum Umdenken. Foto: Jörg Sarbach/dpa

Exemplarisch schrieb das Bundeswirtschaftsministerium in seinem jüngsten Monatsbericht für August, „die wirtschaftliche Entwicklung scheint im Frühsommer erneut ins Stocken gekommen zu sein, die allgemein erwartete konjunkturelle Erholung dürfte sich damit weiter verzögern“. Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung werde jedoch „die Perspektiven für eine wirtschaftliche Belebung in der zweiten Jahreshälfte verbessern“.

Die deutsche Volkswirtschaft war einer der großen Gewinner des mit dem Zusammenbruch der UDSSR zu Beginn der 1990er-Jahre einsetzenden Globalisierungsschubs, als sich zunächst Osteuropa, dann China und schließlich Südostasien und Indien in die internationale Arbeitsteilung integrierten. Autos, Maschinen und Chemikalien made in Germany waren weltweit gefragt. Deutschland profitierte von offenen Märkten und avancierte zum Exportweltmeister. Mit dem boomenden Außenhandel stiegen auch im Inland Einkommen und Wohlstand.

Dieses exportgetriebene Geschäftsmodell trägt nicht mehr. Bereits unter Präsident Barack Obama (2009 bis 2017) identifizierten die USA China als wichtigsten Rivalen, dessen Aufstieg zur Weltmacht es zu stoppen gilt. Der „China-Schock“ nach der Jahrtausendwende, als ganze Industriebranchen in den USA kollabierten und im Mittleren Westen zahlreiche Fabriken schlossen, brannte sich tief in das kollektive Gedächtnis der Amerikaner ein.

Auch Kamala Harris ist bislang nicht als große Fürsprecherin des Freihandels aufgefallen.
Bert Rürup

Der von Ökonomen gleich welcher Schule verehrte Nobelpreisträger Paul Samuelson sah sich sogar veranlasst, das 200 Jahre alte Freihandels-Theorem zu relativieren. Es sei „unzutreffend“, dass der uneingeschränkte Freihandel unterm Strich „jedem überall nutzt“. Ein schnelles technologisches Aufholen Chinas könne in den USA durchaus zu Wohlfahrtsverlusten führen – ein Befund, der für Trump ein gefundenes Fressen ist.

Genau diese möglichen Verluste wollten die letzten drei US-Präsidenten durch eine Wiederentdeckung des Protektionismus verhindern. Und auch Kamala Harris ist bislang nicht als erklärte Fürsprecherin des Freihandels aufgefallen.

„Ich hätte nicht für Nafta gestimmt“, sagte sie 2019 – Nafta steht für „North American Free Trade Agreement“, das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA. Neue Initiativen, etwa für ein Handelsabkommen mit Europa, sind daher nicht zu erwarten. Im Wesentlichen dürfte sie den als „Inflation Reduction Act“ camouflierten gemäßigten Protektionismus der Biden-Administration fortsetzen.

Donald Trump: In einer zweiten Präsidentschaft würde er den amerikanischen Protektionismus auf die Spitze treiben. Foto: REUTERS

Obwohl die US-Handelsbeschränkungen auf den Erzrivalen China abzielen, wirken sie wie Sand im Getriebe des gesamten Welthandels. Beispielsweise sind von US-Handelsbeschränkungen etwa für Hochtechnologie regelmäßig auch europäische Unternehmen betroffen. Bei Nichtbeachtung drohen ihnen harte Sanktionen in den USA.

Sicher, bei einer zweiten Präsidentschaft Trumps würden die Verwerfungen deutlich größer sein. Denn er will einen protektionistischen Schutzwall um die USA errichten. Seine zweite Amtszeit könnte von noch größerer Unberechenbarkeit, Aggressivität und verstärktem Protektionismus geprägt sein als die Jahre 2017 bis 2021.

Mutmaßlich würde er Zölle als Druckmittel gegen Freund und Feind einsetzen, um kurzfristige Vorteile für die USA zu erzielen. Womöglich würde er sogar internationale Institutionen verlassen.

China dürften auf ein solches Verhalten – ob von Harris oder von Trump – mit Gegenmaßnahmen reagieren, die nicht zuletzt auch in Deutschland produzierende Unternehmen treffen würden. Anders als den Regierungen der USA oder China fehlen der Bundesregierung jedoch die Möglichkeiten, ihre handelspolitischen Interessen durchzusetzen.

» Lesen Sie auch: Die deutsche Wirtschaft stagniert seit 18 Quartalen – höchste Zeit für eine Rückbesinnung

Zum einen ist die EU für Handelsfragen zuständig – und die übrigen 26 EU-Volkswirtschaften sind weniger stark auf einen freien Handel angewiesen als Deutschland. Zum anderen wird in Berlin Handels- und Außenpolitik weniger als strategisches Instrument im globalen Wettbewerb gesehen, sondern als Vehikel zum Export hehrer Werte. Solch ein Kurs mag moralisch ehrenwert sein. Allerdings muss man bereit sein, die realwirtschaftlichen Kosten dafür zu tragen. Andere Regierungen setzen sich weit stärker für die Interessen der heimischen Wirtschaft ein.

Verwandte Themen US-Strafzölle USA Wirtschaftspolitik Deutschland

Frühere gesamtwirtschaftliche Schwächephasen endeten in Deutschland zumeist mit einem Anziehen der Auslandsnachfrage. Wer in der aktuellen Stagnationsphase darauf vertraut, dürfte angesichts des sich ausbreitenden Protektionismus enttäuscht werden. Soll die deutsche Volkswirtschaft nicht noch weiter ins Hintertreffen geraten, bleibt der Bundesregierung keine andere Wahl, als den Mut für eine aktive Standortpolitik aufzubringen.

Die 49 Einzelmaßnahmen des jüngst angekündigten Wachstumspakets spiegeln diese Erkenntnis zwar wider. Ausreichend, um die persistente Wachstumsschwäche zu beenden, sind sie gewiss nicht.

Mehr: Chefin der Wirtschaftsweisen erwartet keinen großen Impuls von Wirtschaftspaket

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