Essay: Die Suche nach der Weltformel – was die Geschichte lehrt

Düsseldorf. Man durfte staunen, als Mario Draghi neulich in Brüssel aufgetreten ist. Als ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank ist er ein Meister der filigranen Kommunikation. Doch bei der Übergabe seines 400-seitigen EU-Wettbewerbsberichts übte sich der Italiener in martialischer Rhetorik.
Europa brauche einen „radikalen Wandel“, der Kontinent stehe vor einer „existenziellen Herausforderung“, die am Ende seine Freiheit kosten könnte, sagte Draghi. Und als wäre das nicht genug, legte er noch mal nach: Es drohe ein „langsamer Todeskampf“, wenn die Europäer nicht massiv in ihre Energienetze, in Innovationsförderung und Verteidigung investieren würden.
>> Dieser Artikel ist ein Beitrag zur großen Handelsblatt-Aktion „Zukunftsplan Deutschland“. Alle Texte finden Sie hier.
Es klang nicht nur wie ein Abgesang auf den alten Kontinent. Es war einer.
Wer wollte auch bestreiten, dass Europa sich in einer kritischen Lage befindet: im Westen die zunehmend isolationistisch agierenden USA, die nicht erst seit Donald Trumps erster Präsidentschaft eine radikale Amerika-first-Politik und die Zerstörung jener regelbasierten Weltordnung betreiben, die sie selbst nach dem Zweiten Weltkrieg initiiert haben und in der Europa so gut gedeihen konnte. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass ab Januar 2025 Donald Trumps zweite Amtszeit droht.
Im Osten wiederum sieht Europa sich mit einem Russland konfrontiert, das mit dem Überfall auf die Ukraine in geschichtsrevisionistischer und imperialistischer Absicht den ersten großen Landkrieg seit fast 80 Jahren zurück nach Europa brachte.
In Fernost schließlich gibt es ein China, das die Führungsmacht USA herausfordert und dem gesamten Westen die Systemfrage stellt. In dem epochalen Konflikt zwischen den beiden Weltmächten wirkt Europa verloren – hin und hergerissen zwischen einer selbstbeschwörenden Souveränitätsbekundung und der Gewissheit, dass es sich dabei übernimmt.

Das ist das geopolitische Panorama, das aus europäischer Sicht ungünstiger kaum sein könnte. Hinzu kommt eine ausgeprägte Wachstumsschwäche. Unter der leidet Europa im Vergleich zu den USA und China als Ganzes – und noch ausgeprägter leidet unter ihr Deutschland.
All das, was Draghi zurecht beklagt, gibt es in Deutschland, dem einstigen ökonomischen Kraftwerk des Kontinents, im Konzentrat: schrumpfender Industriesektor, allenfalls stagnierende Konjunktur, schwache Schlüsselbranchen. Ob Maschinenbau, Chemie oder Autoindustrie – all jene Branchen, die Deutschland reich gemacht haben, sind längst nicht mehr das, was man Zukunftsbranchen nennt. Viel gestern, wenig morgen.
Anlass genug, sich mit einer Frage zu beschäftigen, die aus Sicht der Europäer in der jetzigen Lage relevanter kaum sein könnte: Warum steigen Länder oder Wirtschaftsregionen im Verlauf der Geschichte ab oder auf? Wie können sie einen drohenden Abstieg verhindern? Und ab wann ist das Scheitern von Nationen unumkehrbar?
I. Auf der Suche nach historischen Mustern
Das sind die großen Fragen, an denen sich Historiker, Politologen und Universalgelehrte seit Jahrzehnten abarbeiten. Für den britischen Historiker Paul Kennedy ist die „Überdehnung“ der Grund für den Abstieg großer Weltmächte. Dem Niedergang der Großmächte sei stets eine Phase der Überforderung vorausgegangen, in der die materiellen Ressourcen für die politischen oder militärischen Ambitionen nicht mehr ausreichten, schrieb er in den 1980er-Jahren in seinem Buch über den „Aufstieg und Fall der großen Mächte“.
Der Begriff „Überdehnung“ ist in den USA tatsächlich in den alltäglichen Sprachgebrauch des Pentagons und des State Departments eingedrungen. Der Hegemon will nicht mehr der Weltpolizist sein, sondern sich auf den Konflikt mit seinem Herausforderer China konzentrieren. Isolationistische Tendenzen gibt es sowohl bei Republikanern als auch Demokraten.
» Lesen Sie auch: Warum Strafzölle auf E-Autos aus China ökonomisch sinnvoll sein können
Einen anderen Weg geht der amerikanische Evolutionsbiologe und Bio-Geograf Jared Diamond. Er betont in seinem Werk „Arm und Reich“ unter anderem die günstigen geografischen Voraussetzungen, die den Aufstieg Europas ermöglicht haben, sieht sich allerdings mit dem Vorwurf eines „geografischen Determinismus“ konfrontiert, weil er mit seinem Ansatz die politisch Handelnden zumindest zum Teil aus der Verantwortung entlässt. Diamond legte dann vor einigen Jahren mit „Krise“ ein Buch vor, das Rezepte gegen den Niedergang von Nationen erörtert.
Seine These: Es ist häufig die Übernutzung natürlicher Ressourcen oder eine falsche Reaktion auf Umweltveränderungen, die in der Geschichte den Zusammenbruch von Zivilisationen einleiten würden.
Die US-Ökonomen Daron Acemoglu und James Robinson hingegen stellen in ihrem Werk „Warum Nationen scheitern“ die politische Verantwortung explizit heraus. Es sei die Qualität der Institutionen, die über die Wohlstandsentwicklung entschieden. Das wusste auch schon der Philosoph Karl Popper zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Aber die beiden US-Ökonomen untermauern ihre These mit Datensätzen und systematischen Modellen, während Diamond vor allem mit anekdotischer Evidenz arbeitet.

Der Soziologe Max Weber sah in der „protestantischen Ethik“ mit ihrer Arbeitsmoral und Bescheidenheit die Voraussetzung für den ökonomischen Aufstieg. In den 1960er- und 1970er-Jahren galt der Mangel an Kapital und Investitionen als die Ursache geringen Wohlstands in vielen Ländern. Mit der neoliberalen Revolution in den 1980er-Jahren war es die Vernachlässigung marktwirtschaftlicher Prinzipien, die die Volkswirtschaften in die Krise schlittern ließ. Spätestens nach der großen Finanzkrise 2008 dann wieder die Wende: Der Staat galt plötzlich wieder als Lösung ökonomischer Grundsatzprobleme. Die neue Staatsgläubigkeit manifestiert sich nicht selten in industriepolitischem Machbarkeitswahn und protektionistischen Heilsversprechen.
Es ist also alles andere als trivial, allgemeingültige Ursachen für den Niedergang von Nationen zu identifizieren, geschweige denn Gegenrezepte zu entwickeln. Aber Muster lassen sich durchaus erkennen.
II. Auf die Ökonomie kommt es an
Weitgehend Konsens herrscht in der Wissenschaft darüber, dass die Entwicklung der Wirtschaft das entscheidende Kriterium ist. In der gesamten Neuzeit zeigt sich, dass jene Großmächte in ihrer Epoche die Welt dominierten, die bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf vorne lagen.
Erst wirtschaftliche Stärke schafft militärische. Der umgekehrte Versuch, sich mit militärischer Stärke wirtschaftliche Ressourcen zu erobern, hat sich zumindest seit der industriellen Revolution als wenig nachhaltig erwiesen. Das heißt, der Kampf um geopolitische Dominanz war und wird immer auch oder vor allem ein Kampf um wirtschaftliche Dominanz sein.
» Lesen Sie auch: Schluss mit 530 Förderprogrammen? So will die EU-Kommission den Haushalt vereinfachen
Im amerikanischen Jahrhundert, das mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begann, stieg der Anteil der USA an der weltweiten Wirtschaftsleistung (BIP) von 15,8 Prozent im Jahr 1900 auf aktuell 26,1 Prozent.
Geradezu atemberaubend ist der Aufstieg Chinas. Lag der Anteil an der Weltwirtschaftsleistung 1980 noch bei 2,7 Prozent, sind es heute 16,9 Prozent. Kaufkraftbereinigt liegt die Volksrepublik bereits seit 2017 vor den USA. Beim BIP pro Kopf liegt China derzeit etwa auf dem Niveau von Bulgarien. Würde China hier amerikanische Dimensionen erreichen, wäre die chinesische Wirtschaft um das 2,7-Fache größer als die der Vereinigten Staaten.
Der britische Wachstumsforscher Angus Maddison hat festgestellt, dass das Pro-Kopf-Einkommen um das Jahr 1000 in allen wichtigen Weltregionen in etwa gleich hoch war. Erst mit dem Beginn der Neuzeit im 15. Jahrhundert eilte Westeuropa dem Rest der Welt davon. Die erste industrielle Revolution brachte dann Ende des 18. Jahrhunderts einen nie gekannten Schub. 1820 war das Pro-Kopf-Einkommen in Europa schon doppelt so hoch wie im Weltdurchschnitt.
Mit der zweiten industriellen Revolution ab den 1870er-Jahren, die sich durch technologische Durchbrüche in den Bereichen Chemie und Elektrotechnik sowie Anfang des 20. Jahrhunderts durch neue Produktionsverfahren wie die Fließbandfertigung auszeichnete, verlagerte sich das Kraftzentrum der Weltwirtschaft dann immer stärker nach Nordamerika.
III. Ohne gute Institutionen ist alles nichts
Was also sind die besten Voraussetzungen für eine starke Wirtschaftsentwicklung? Dass der Wachstumssprung in Europa seinen Ausgang nahm, basiert nach Ansicht der in Chicago lehrenden Wirtschaftshistorikerin Deirdre McCloskey auf der Idee der Freiheit. Sie sei Voraussetzung dafür gewesen, dass sich eine „Kultur des Fortschritts und der Aufgeschlossenheit gegenüber Innovationen“ sowie eine „gesellschaftliche Wertschätzung unternehmerischer Leistungen“ entwickelte.
» Lesen Sie auch: Knapp sechs Milliarden Euro für 2024: Griechenland erzielt Rekord beim Verkauf von Staatsvermögen
Der Ansatz von Acemoglu und Robinson, die die Entwicklung einer Vielzahl von Ländern über mehrere Jahrhunderte untersuchten, war noch spezieller. Ihre Forschungen ergaben, dass die Gestaltung der Institutionen entscheidend ist: Gute – und das heißt aus ihrer Sicht vor allem inklusive – Institutionen seien notwendige Bedingung für einen nachhaltigen Wohlstandszuwachs.
„Inklusive“ Institutionen zeichnen sich für die beiden Ökonomen durch Pluralismus, Machtkontrolle und Allgemeinwohl‧orientierung aus. Dazu gehören demokratische Wahlen, individuelle Eigentumsrechte und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten für jeden. Solche Institutionen steigern erheblich die Chance, dass die Ressourcen zum Wohle aller genutzt werden und das Land reich wird. Faktoren wie Geografie oder Kultur spielten nur insofern eine Rolle, als sie die Entstehung dieser Institutionen beeinflussen.
Schlechte oder auch „extraktive“ Institutionen sind dagegen solche, die einer kleinen Elite die politische Macht und die Kontrolle über ökonomische Ressourcen geben. Sie haben ihre Wurzeln „in feudalistischen Gesellschaftsordnungen wie Frankreich, Spanien, Portugal, Holland und Russland“.
Es ist kein Zufall, dass die „guten Institutionen“ in England entstanden. Es war die Magna Carta, die englischen Adeligen und Bürgern 1215 Freiheitsrechte gegenüber dem Monarchen einräumte und den Grundstein für eine parlamentarische Repräsentation des Volkes legte. Mit der „Glorreichen Revolution“ von 1688 entwickelten sich dann konsequent demokratische Institutionen und eine marktwirtschaftliche Tradition, die wiederum die Basis für die industrielle Revolution legten.
Die Erklärungskraft dieses Ansatzes ist zunächst verblüffend. Mit ihm lässt sich der ökonomische Zerfall der Sowjetunion ebenso nachvollziehen wie der Abstieg Argentiniens – jenes Landes, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in der Topliga der Weltwirtschaft spielte. Heute ist das Land wirtschaftlich mit einem Anteil von nur noch 0,6 Prozent am Welt-BIP weitgehend marginalisiert. Auch Russland repräsentiert trotz gigantischen Rohstoffreichtums nur knapp zwei Prozent der Weltwirtschaftsleistung – was im auffälligen Kontrast zu seinen imperialistischen Ambitionen steht.
In beiden Fällen gilt: Die Institutionen waren nicht so gestaltet, dass sie notwendige Kurskorrekturen einleiten oder den Raubbau der Mächtigen am Gemeinwesen verhindern konnten.
IV. Rechtsstaatlichkeit versus staatliche Willkür
Auch in den westlichen Demokratien hat der Staat das Gewaltmonopol. Allerdings bindet er sich, anders als in Autokratien, an Recht und Gesetz. Wladimir Putin und Xi Jinping dürfen, dem Sonnenkönig Louis IV. nicht unähnlich, noch sagen: „Der Staat bin ich!“ Die Verfassungen moderner Demokratien dagegen hegen das Handeln der Regierung ein und schützen ihre Bürger vor staatlicher Willkür und Übergriffigkeit.
Das europäische Wirtschaftswunder der Neuzeit, so der kürzlich verstorbene britisch-australische Wirtschaftshistoriker Eric Lionel Jones, gründe im Kern auf dem Rechtsstaat.
Denn erst wenn Privateigentum, Vertragsfreiheit und Herrschaft des Rechts gewährleistet sind, können alle Bürger und Unternehmer nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten am wirtschaftlichen Geschehen teilhaben. Und erst wenn der Staat einen Rechtsrahmen durchsetzen kann, der seine Bürgerinnen und Bürger vor Betrug und Raub schützt, sind sie bereit, zu sparen und zu investieren. Nur dann können Kapitalstock, Produktivität und Innovationskraft wachsen.
» Lesen Sie auch: Von der Leyens Personalpläne stoßen auf Kritik
Ergo: „Länder wie Großbritannien und später die USA sind reich geworden, weil ihre Bürger die Machteliten stürzten und eine Gesellschaft schufen, in der die politischen Rechte viel breiter verteilt sind, in der die Regierung den Bürgern Rechenschaft schuldet und in der die große Mehrheit des Volkes ihre wirtschaftlichen Chancen nutzen kann“, heißt es in „Warum Nationen scheitern“.
V. Vielfalt akzeptieren, ohne den Zusammenhalt zu gefährden
Umstritten und vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsdebatte politisch höchst brisant ist die Frage, wie viel Homogenität Volkswirtschaften für den Erfolg brauchen – und ob zu viel davon sogar schädlich sein kann. Der israelische Wirtschaftswissenschaftler Oded Galor etwa sagt, wirtschaftlichen Erfolg haben Gesellschaften vor allem, wenn sie Vielfalt akzeptieren, ohne allerdings den Zusammenhalt zu verlieren.
„Diversität in Gesellschaften in Verbindung mit Bildung steigert die Wahrscheinlichkeit auf technischen Fortschritt“, argumentiert Galor. Die USA, deren Universitäten Menschen aus allen Ländern anziehen, stehen für die positive Wirkung interkulturellen Austauschs. Natürlich könne Vielfalt auch gesellschaftliche Spannungen hervorrufen und damit Kosten verursachen, schränkt Galor ein.
» Lesen Sie auch: Trotz Widerstand aus Berlin: EU bringt Strafzölle für chinesische E-Autos auf den Weg
Studien auf volkswirtschaftlicher Basis, die den Wettbewerbsvorteil multikultureller Gesellschaften belegen, gibt es allerdings kaum. Eine aufwendige Bertelsmann-Studie mit dem Titel: „Faktor Vielfalt – Die Rolle kultureller Vielfalt für Innovationen in Deutschland“ stellt jedenfalls die positiven Wirkungen von „multikulti“ in den Vordergrund. Eine Schlussfolgerung der Studie: „Nicht ohne Grund sind die Innovationszentren dieser Welt kulturell divers: Das Silicon Valley, Stadtstaaten wie Singapur oder Länder wie Israel stehen dafür und zeichnen sich zugleich durch eine hohe Innovationsfähigkeit aus, was neben der Anzahl an Patenten auch an der Zahl der Start-ups ersichtlich ist“.

Die Bertelsmann-Forscher verfolgen allerdings einen eher mikroökonomischen Ansatz. „Je vielfältiger die Zusammensetzung eines Teams hinsichtlich der Herkunftsländer ist, desto stärker wirkt sich dies positiv auf die Innovationskraft aus“, heißt es bei ihnen.
Zum gleichen Ergebnis kommt eine McKinsey-Studie aus dem vergangenen Jahr. Die Unternehmensberatung wagt sogar eine Quantifizierung der Vorteile: Sie beziffert die zusätzliche Wertschöpfung durch mehr kulturelle Vielfalt auf mehr als 100 Milliarden Euro. Beide Studien weisen allerdings darauf hin, dass die Qualifikation von Einwanderern einen großen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen kultureller Vielfalt und Innovation habe.
» Lesen Sie auch: „Frontaler Angriff auf Green Deal“: EU verschiebt umstrittenes Gesetz zum Waldschutz
Insgesamt gilt: Zumindest aus ökonomischer Perspektive ist es fahrlässig, das Ziel einer homogenen nationalen Gemeinschaft zu verfolgen. Es scheint das beste Rezept für einen Abstieg zu sein.
VI. Das China-Rätsel
Insgesamt klingen die Thesen der verschiedenen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker einleuchtend, und kaum jemand würde im Grundsatz widersprechen. Für den atemberaubenden Aufstieg Chinas allerdings verflüchtigt sich die Erklärungskraft dieser Thesen – zumindest auf den ersten Blick. Wie kann ein System, das antifreiheitlich, repressiv und zentristisch organisiert ist, so erfolgreich sein?
Die Volksrepublik ist der lebende Beweis für die Absurdität der These eines Francis Fukuyama, der nach dem Zerfall der Sowjetunion in einmaliger Hybris über das „Ende der Geschichte“ fabulierte, weil sich die freiheitliche Demokratie endgültig durchgesetzt habe. Insofern ist die offene Systemkonkurrenz zwischen den USA und China eine Art narzisstische Kränkung des Westens.
Auch Acemoglu und Robinson ist dieser kleine, aber nicht unbedeutende Widerspruch nicht entgangen. Sie behelfen sich mit der These, dass der Erfolg der Volksrepublik Folge der Liberalisierung des planwirtschaftlichen Systems in den 1980er-Jahren war, und werten die aktuelle Schwäche der Wirtschaft als Folge der Abkehr von dieser Liberalisierung.
» Lesen Sie auch: „Ich habe nie verstanden, warum wir eine der wichtigsten Säulen unseres Wohlstands mutwillig ruinieren“
Langfristig, so das Argument, wird das System nur erfolgreich sein, wenn sich zu den ökonomischen Reformen auch politische gesellen. China stecke jetzt in einer Aufholjagd, aber autoritär gesteuertes Wachstum, das auf dem Import fremder Technologien und dem Export von Billigprodukten beruhe, stoße irgendwann an Grenzen, argumentiert Acemoglu im Gespräch mit dem Handelsblatt. Es sei denn, die schöpferische Zerstörung erfasse das politische System mit dem Machtmonopol der Kommunistischen Partei, woran die Autoren jedoch ihre Zweifel haben.
Allerdings beschränkt sich der Erfolg Chinas inzwischen nicht mehr nur auf das Kopieren bewährter westlicher Methoden und Produkte. Die Volksrepublik konkurriert auf den Weltmärkten in vielen Bereichen mit den High-Tech-Ländern auf Augenhöhe, in einigen, etwa der Herstellung von Elektroautos für den Massenmarkt oder in bestimmten Bereichen der Künstlichen Intelligenz, ist sie möglicherweise sogar Technologieführer.

Trotzdem glaubt Acemoglu nicht, dass der Aufstieg Chinas zur ökonomischen Weltmacht ein stabiler und irreversibler Prozess ist. Das Wachstum dort vollziehe sich unter extraktiven politischen Institutionen, schreiben Acemoglu und Robinson. Dadurch werde es „schwerlich zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung“ kommen, vielmehr werde das Wachstum früher oder später „im Sande verlaufen“.
Auch für den Westen übrigens gilt, dass dessen demokratische Institutionen „extraktive“ Züge annehmen können. So gelang es Banken während der Finanzkrise in vielen Staaten des Westens, die Politik für ihre Interessen einzuspannen: Gewinne privatisieren, Verluste kollektivieren, das funktionierte damals bedenklich gut - und hat der Glaubwürdigkeit des westlichen Systems großen Schaden zugefügt.
Ob China in der Lage sein wird, die USA abzulösen, ist die große Frage. Paul Kennedys Theorie legt das nahe: Ein Land dominiere die Welt meist für rund ein Jahrhundert, dann sei es erschöpft. Spanien war von Mitte des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts der Hegemon, gefolgt von Frankreich im 18. Jahrhundert, Großbritannien im 19. Jahrhundert und den USA nach dem Ersten Weltkrieg.
» Lesen Sie auch: Letzte Umfragen bringen Harris gleichauf zu Trump – Aktuelle Entwicklungen im Überblick
Die Geschichte zeigt laut Kennedy: Wird eine Groß- oder Supermacht von einer anderen abgelöst, führt das zu Spannungen oder Kriegen, da die im Niedergang begriffene Macht versuchen wird, den Aufstieg des Herausforderers zu verhindern.
Die Spannungen entladen sich schon jetzt in Handelskonflikten und Technologiekriegen. Die USA scheinen sich von der Abwicklung der Globalisierung einen Vorteil zu versprechen, während sich exportorientierte Volkswirtschaften wie China verletzlicher zeigen.
VII. Noch ist nichts verloren – auch für Deutschland nicht
Das gilt freilich auch für Deutschland und sein Wirtschaftsmodell. Europa stecke fest in seiner Industriestruktur – wenige neue, zukunftsträchtige Unternehmen entstünden, diagnostiziert Draghi in seinem EU-Wettbewerbsbericht. Das ist treffend beschrieben, und es gilt vor allem auch für Europas größte Volkswirtschaft. Das ist durchaus überraschend. Schließlich war die deutsche Industrie viele Jahrzehnte das Forschungslabor der Welt –und hat immer wieder eine große Anpassungsfähigkeit bewiesen.
Zu Beginn der Jahrtausendwende galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“. Es schaffte die Wende dank mutiger Agenda-Reformen und dynamischer Globalisierung. Geopolitische Verwerfungen, wachsender Protektionismus, verfehlte Energiepolitik und vor allem auch demografische Risiken bringen völlig neue Herausforderungen. Es reicht nicht mehr, althergebrachte Produkte mithilfe bewährter Ingenieurskunst zu optimieren. Durchbrüche im Bereich der digitalen Zukunftstechnologien inklusive KI, die bislang vor allem in den USA und China stattfinden, wären notwendig, um beim Wachstum nicht abgehängt zu werden.
Hier schließt sich der Kreis zu Acemoglu und Robinson: Ökonomische Widerstandskraft, ein zuverlässiger Rechtsrahmen, kulturelle wie technologische Offenheit und eben inklusive Institutionen sind förderlich für solche Innovationen.
Voraussetzung ist allerdings zusätzlich eine Wirtschaftspolitik, die sich nicht nur an alten Branchen festklammert, sondern auch mal „schöpferische Zerstörung“ zulässt, sie sogar als Chance für den notwendigen Wandel begreift. Ob in Europa und speziell in Deutschland die Bereitschaft hierfür ausreichend ausgeprägt ist, darf bezweifelt werden.
Vor allem was die inklusiven Institutionen angeht, haben Deutschland und Europa als Ganzes mit seiner großen sozialen Teilhabe aller Bevölkerungsschichten durchaus auch Vorteile gegenüber den USA und China. Die Tatsache allerdings, dass die Arbeitsproduktivität in Europa auf nur noch 80 Prozent des US-Niveaus gesunken ist, ist ein Alarmsignal – und im Wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass der alte Kontinent bei der digitalen Revolution allenfalls ein Nischendasein fristet.
Die Produktivität ist das Geheimnis dauerhaften ökonomischen Erfolgs, wusste schon der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow in den 1950er-Jahren. Und gerade entwickelte Volkswirtschaften mit demografischen Problemen wie die deutsche können nur mit Innovationen, die die Produktivität steigern, erfolgreich sein.
Trotz des scheinbar historisch regelmäßigen Ab- und Aufstiegs von Nationen: Es ist verfrüht, ein chinesisches Zeitalter anstelle der Pax Americana auszurufen. Ebenso wie es voreilig wäre, den Niedergang der europäischen beziehungsweise deutschen Industrie als zwangläufig zu erachten. Die Geschichte ist offen, es gibt keine Gesetzmäßigkeit des historischen Verlaufs, wie Karl Popper schon betonte. Wer zum Beispiel hätte im 16. Jahrhundert erwartet, dass ausgerechnet England sich an die Spitze des Fortschritts setzen würde?






Nationen, die aus der ersten Liga absteigen, versinken zudem keineswegs zwangsläufig in Armut. Großbritannien verlor zwar sein Weltreich. Doch das Vereinigte Königreich ist – anders als Argentinien – trotz Brexit und diverser politischer und wirtschaftlicher Krisen immer eine geopolitische und ökonomische Größe geblieben. Ein Niedergang ist also ebenso wenig vorherbestimmt, wie ein Wiederaufstieg nicht unmöglich ist.
Vielleicht helfen hier auch Empfehlungen von Jared Diamond: „Bei der Bewältigung von Krisen sind ähnliche Faktoren entscheidend wie beim Umgang mit individuellen Traumatisierungen: sich eingestehen, dass man in einer Krise steckt; eine ehrliche Bestandsanalyse betreiben, statt sich als Opfer zu stilisieren; die Probleme eingrenzen; Hilfe annehmen und bereit sein, aus Krisen anderer zu lernen. Letztlich gilt es, sich zu verändern, ohne alles infrage zu stellen“, schreibt der Universalgelehrte in seinem Werk „Krise“.
Klingt wie eine Handlungsempfehlung für Deutschland und Europa insgesamt.
Mehr: Israels Ex-Premier Olmert: „Wir müssen alles unternehmen, um die Regierung Netanjahu zu stürzen“






