Editorial: Die Zinswende ist da – und wird in eine neue Wirtschaftswelt führen

Sebastian Matthes ist Chefredakteur des Handelsblatts.
Es ist ein schwieriger Weg, der da hinter der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrer Chefin Christine Lagarde liegt. Fast trotzig verschanzte sich die Leitung der Notenbank im Frankfurter EZB-Tower hinter den immer gleichen Begründungen für den Niedrigzinskurs: Diese anziehende Inflation sei „ungewöhnlich“, aber „nur vorübergehend“. Medien, die die längst offensichtlichen Inflationsgefahren auf den Titel hoben, wurden öffentlich gemaßregelt: alles Panikmache. So schlimm wie in den USA werde es schon nicht kommen.
Die Realität war eine andere. Bereits vor Beginn des Ukrainekriegs war klar, dass die Welt vor einer längeren Phase mit hoher Inflation und schwächeren Wachstumsraten steht. Der grüne Umbau der Wirtschaft treibt die Preise genauso wie die weltweiten Lieferprobleme bei wichtigen Gütern. Nun also steuert die EZB um. Diese Zinswende aber kommt nicht Monate, sondern Jahre zu spät.
Denn das „Deflationsgespenst“, das schon Ex-EZB-Chef Mario Draghi zu bekämpfen versuchte, tauchte nie auf. Die Zinswende kommt deshalb zur Unzeit. Denn je später Notenbanken auf steigende Preise reagieren, desto heftiger müssen sie eingreifen – und desto größer wird die Gefahr eines Wirtschaftseinbruchs.
Deutschland steht nun vor einer Art Stabilisierungskrise: Durch die steigenden Zinsen werden die Kredite für Unternehmen teurer; sie werden weniger investieren können, was wiederum die Nachfrage nach Rohstoffen, industriellen Vorprodukten und anderen Gütern senkt. Das trifft die Wirtschaft in einer heiklen Phase. Viele Firmen leiden unter hohen Energiepreisen und fehlenden Arbeitskräften, womöglich ist für einige bald kein Gas mehr verfügbar. Dennoch ist es gut, dass die Zinswende endlich kommt. Wenn nämlich Geld nichts kostet, hat das oft kostspielige Folgen.
Schnell drehender Unsinn
Zu besichtigen war das auf dem Immobilienmarkt, wo Makler zuletzt üble Schrottbuden zu exorbitanten Preisen loswurden. Irgendwer griff immer zu. Wie schnell der Markt nun dreht, zeigen Zahlen von Immoscout24: Im zweiten Quartal ist auf dem Portal die Nachfrage nach Wohnimmobilien gegenüber 2021 um 36 Prozent zurückgegangen. Der Grund: die steigenden Zinsen für Immobilienkredite.
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In einer Welt, in der es Kapital zum Nulltarif gibt, wird allerlei schnell drehender Unsinn finanziert. Das gilt für viele Branchen. Besonders krass aber lief es bei Tech-Unternehmen, wo Geschäftsideen mit Milliarden bewertet wurden, die niemals Geld verdienten. Exponentiell wachsende Lieferdienste zum Beispiel. Auch Netflix hat mithilfe des billigen Geldes die Welt erobert. Der Streamingdienst steckte allein dieses Jahr 17 Milliarden Dollar in neue Filme, Serien und Dokumentationen – finanziert auf Pump: Im Juni lag die Nettoverschuldung von Netflix bei 8,5 Milliarden Dollar. Lange ließen sich Aktionäre von dieser kreditfinanzierten Wachstumsstory blenden, doch seit Herbst hat die Aktie zwei Drittel an Wert verloren.
Das Spiel solcher Winner-takes-it-all-Firmen trieb in der Nullzinsphase absonderliche Blüten: Konzerne wie Apple und Google haben sich in den vergangenen Jahren mit Milliarden verschuldet, um eigene Aktien zurückzukaufen. Der Gewinn pro Aktie stieg dadurch, weil die Zahl handelbarer Aktien durch die Rückkäufe kleiner wurde. Der absolute Gewinn vieler Firmen hingegen stagnierte – oder sank sogar. Diese Trickserei wird nun teurer.






Was die Politik ändern muss
Auch die Politik muss fortan anders wirtschaften. Dank negativer Zinsen hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren mit neuen Schulden bestens verdient. 2021 waren es knapp elf Milliarden Euro. Ministerinnen und Minister gewöhnten sich daran, ihre Probleme mit Milliardenausgaben zu lösen, wie die Reflexe bis heute zeigen. Doch auch das ist vorbei. 2023 rechnet Bundesfinanzminister Christian Lindner mit bis zu 30 Milliarden Euro Zinsausgaben. 2021 waren es noch vier Milliarden Euro. Bleibt noch ein geldpolitisches Problem: Draghi hat mit dem Satz, die EZB werde alles tun, um ein Zerbrechen der Euro-Zone zu verhindern, 2012 zwar den Euro gerettet, er hat die Zentralbank aber auch in ein Dilemma gestürzt. Denn die EZB ist qua Mandat dazu verpflichtet, Geldwertstabilität zu sichern. Draghi hat den Zusammenhalt zum neuen, inoffiziellen Ziel erklärt. Dafür hat die EZB aber bis heute kein formelles Mandat. Welch Ironie, dass Mario Draghi heute wieder im Mittelpunkt steht – dieses Mal als scheidender Ministerpräsident des Landes, das den Euro in die nächste Krise stürzen könnte.
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