Klimapolitik: Der Streit über Klimaziele geht an der Realität vorbei


Es ist ein Spiel mit gegensätzlichen Rollen: Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) betont wieder und wieder, das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 stehe nicht zur Debatte. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) meldet Zweifel an und fordert, das deutsche Klimaziel müsse mit internationalen Zielen „harmonisiert“ werden.
Damit meint sie eine Verschiebung auf das Jahr 2050, die der Umweltminister sogleich empört zurückweist: Im Koalitionsvertrag sei das Bekenntnis zum Jahr 2045 eindeutig festgeschrieben.
Das Geplänkel wird der Realität schon lange nicht mehr gerecht. Das Beharren auf 2045 erscheint völlig realitätsfern. Selbst das Ziel, 2050 klimaneutral zu werden, ist nur mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zu erreichen, deren Folgen schwer abzuschätzen sind.
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Längst hat es einige Branchen und Regionen hart getroffen. Dow Chemical kündigt Schließungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt an, zugleich sind Chemiestandorte im nördlichen Ruhrgebiet und entlang der Rheinschiene in Gefahr. Als Hauptursache werden hohe Energie- und CO2-Preise genannt.
Das Fatale: Chemiestandorte funktionieren nur im Verbund effizient. Wenn einzelne Teile herausbrechen, schwächt das zwangsläufig die ganze Prozesskette. Auch die Schließung kleinerer Einheiten kann immense Folgewirkungen haben. Daher besteht die Gefahr eines sich selbst beschleunigenden Prozesses.
Industrie schrumpft, CO2-Emissionen bleiben
Und so geht die industrielle Basis verloren, die CO2-Emissionen sinken indes nicht. Denn der Blick auf die deutschen CO2-Emissionen führt in die Irre. Die Produktion, die hier wegbricht, wandert ab in Weltregionen, in denen meist weniger strenge Umweltauflagen gelten, die keine CO2-Bepreisung kennen.
Belegschaften, Vorstände oder Verbandschefs, die jetzt Brandbriefe nach Berlin und Brüssel schicken, werden von Klimaschützern mitunter kritisiert, sie forderten schamlos weitere Subventionen. Das dürfte die Entfremdung zwischen Klimaschutzorganisationen und Teilen der Industrie weiter vertiefen.
Dabei ist die Faktenlage erdrückend. Hierzulande sind die Energiepreise zu hoch, daran gibt es keinen Zweifel. Und das ist nicht gottgegeben, sondern zu einem erheblichen Teil Folge politischer Entscheidungen.
Vorbildrolle seit 20 Jahren ohne Wirkung
Natürlich gibt es schon heute eine Reihe von Entlastungen, gerade für energieintensive Unternehmen. Aber sie reichen nicht aus, stehen unter strenger beihilferechtlicher Kontrolle, müssen mitunter Jahr für Jahr neu beantragt werden oder werden – wie aktuell die Netzentgeltprivilegien für Industriebetriebe mit kontinuierlich hohem Strombezug – ganz grundsätzlich infrage gestellt.
Immer drängender wird das Problem, dass vergleichbare Belastungen in anderen Weltregionen nicht bestehen. An die 90 Prozent der CO2-Kosten in der Welt fallen Schätzungen zufolge in Europa an. Das ist ein Beleg dafür, dass die seit mindestens zwei Jahrzehnten vorgetragene Behauptung, Europa und speziell Deutschland müssten im Klimaschutz nur mit gutem Vorbild vorangehen, dann würden die anderen schon nachziehen, schon immer falsch war.
Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Die Unternehmen des produzierenden Gewerbes haben sich im europäischen Emissionshandelssystem nicht bequem eingerichtet. Sie bekommen schon lange nur noch einen Teil der Emissionszertifikate kostenlos zugeteilt, die Zuteilung orientiert sich an Grenzwerten, die mitunter keine einzige Anlage ihrer Art in Europa erreicht. Das heißt: Sie zahlen Jahr für Jahr drauf. Hinzu kommt eine jährliche Kürzung der Zertifikatmenge, die 2020 noch 1,74 Prozent betrug und seitdem in zwei Schritten auf 4,3 Prozent erhöht wurde. Zwischen diesen Werten liegt der Faktor 2,5.
Kleinkarierte Verfahren, unsichere Erstattungen
Obendrauf kommen die ungeklärten Fragen beim CO2-Grenzausgleich. Noch immer steht in den Sternen, wie der Kostennachteil europäischer Exporteure ausgeglichen werden soll.
Dass die EU-Kommission kürzlich angedeutet hat, sie erwäge eine Erstattung der CO2-Kosten beim Export, weckt bei den betroffenen Unternehmen schlimmste Befürchtungen: Sie werden sich darauf einstellen müssen, Jahr für Jahr bei der EU-Kommission um Geld zu betteln, kleinkarierte bürokratische Verfahren, unsichere Rechtslage, unklare Erstattungshöhe inklusive.
Antworten aus Brüssel und Berlin überzeugen nicht
Die EU-Kommission und die Bundesregierung müssen möglichst schnell eine Frage verlässlich klären: Welche Branchen müssen langfristig unterstützt werden? Aktuelle Versuche, der Industrie entgegenzukommen, wirken seltsam kleinlich und zaghaft.






Der von der Kommission geplante beihilferechtliche Rahmen für einen Industriestrompreis ist auf drei Jahre befristet, im Umfang sehr begrenzt und an die Bedingung geknüpft, die Hälfte der Entlastung in die Transformation zu investieren. Ob man ein energieintensives Unternehmen damit zu Investitionen ermuntern kann, darf bezweifelt werden.
Das Stichwort Resilienz ist in diesem Text bislang nicht gefallen. Aber am Ende geht es um die Frage, ob Europa sich komplett erpressbar machen oder sich einen industriellen Kern erhalten will. Diese Frage wird innerhalb der nächsten Monate entschieden. Die Antworten aus Brüssel und Berlin überzeugen bisher nicht. Der Streit um Zieljahre ist jedenfalls kein Beitrag zur Lösung.
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