Kommentar: Der Sturm auf das Kapitol war ein Angriff auf die Demokratie

Vieles hat man in den vier Jahren Donald Trump für möglich gehalten. Man hatte sich gewöhnt an die Eskapaden des Präsidenten, an die offensichtlichen Unwahrheiten, die er verbreitete, an die Willkür, mit der er Politik betrieb.
Aber die Bilder von Mittwoch aus Washington erreichen noch einmal eine neue Qualität. Ein Sturm auf das Parlament – das hat Symbolcharakter, es bedeutet nichts Geringeres als einen Angriff auf die Demokratie. Der despotische Charakter des amtierenden Präsidenten und seiner Bewegung manifestiert sich in den Bildern von gewaltbereiten Trump-Anhängern, die in das Kapitol eindrangen.
Die Wut, die Trump säte, sie bricht sich Bahn. Es ist die Wut über die verlorene Präsidentschaftswahl, und es ist die Wut über die verlorene Senatswahl in Georgia. Trumps Metapher von der „gestohlenen Wahl“ hat ihre ganze Wirkung entfaltet.
Der Kern jeglicher Demokratie ist die friedliche Machtübergabe – in den Vereinigten Staaten von Amerika ist sie keine Selbstverständlichkeit mehr. Das Verdikt eines Staatsstreichs mag übertrieben sein, doch dass die einst so stolze und stabile amerikanische Demokratie in einer tiefen Krise, vielleicht der größten seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor 160 Jahren, steckt – das dürfte auch dem größten Amerika-Optimisten spätestens jetzt klar sein.
Trump hat lange gezündelt, die so traditionsbewussten konservativen Republikaner haben das vier Jahre lang geduldet, ja unterstützt. Mitch McConnell, der mächtige Mehrheitsführer im Senat, der aus reinem Machtkalkül ein verhängnisvolles Bündnis mit Trump einging, einem Mann, den er einst verabscheute.

Wenn Trump am 20. Januar das Weiße Haus verlässt, wird er das politische System tief greifend verändert haben.
Vizepräsident Mike Pence, der bis zuletzt alle Untaten Trumps loyal mittrug und sich erst jetzt, als es gar nicht mehr anders ging, distanzierte. Die Republikaner im Repräsentantenhaus, die dem neuen Präsidenten auch nach den Ereignissen im Kongress die Anerkennung seines Wahlsiegs verweigern. Sie alle haben sich der Brandstiftung schuldig gemacht.
Republikaner verlieren Ruf
Jetzt steht die Grand Old Party, die Trump innerhalb nur weniger Jahre zu einem Präsidenten-Fanklub degradierte, vor einem Scherbenhaufen. Verlorene Präsidentschaftswahl, verlorene Mehrheit im Senat – und vor allem auch: verlorene Reputation.
Joe Biden kann jetzt mit der demokratischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses durchregieren, wie es so schön heißt.
Aber es bleibt ein Rätsel, wie der neue Präsident, der in knapp zwei Wochen sein Amt antritt, dieses zerrissene Land wie versprochen einen will. Dort, wo man die Mitte der Gesellschaft wähnte, klafft nach vier Jahren Trump ein riesiges Loch. Die Massen flüchteten an die Ränder.
Die Extreme brüllen sich an und sind nicht in der Lage, eine gemeinsame Politik zu formulieren. Gern wird vergessen, dass knapp die Hälfte der Wähler den Präsidenten in seinem Amt bestätigen wollte. Und bei den Demokraten gibt es eine starke Strömung, die nach links außen tendiert.
Biden wird nicht nur Brücken bauen müssen zwischen diesen Rändern der Gesellschaft. Er wird auch seine eigene Partei zusammenhalten müssen. Das wird die ganze Kraft des 78-Jährigen absorbieren. Ob noch genügend Energie übrig bleibt, um eine vernünftige Wirtschaftspolitik umzusetzen, die das Corona-geschädigte Land so dringend braucht, ist die große Frage.
Tatsächlich gibt es in den USA jenseits des republikanischen Lagers viele Stimmen von Ökonomen, die sich eine Mehrheit der Republikaner im Senat gewünscht hätten – als marktwirtschaftliches Korrektiv gewissermaßen, das die Demokraten von den verrücktesten Ideen von Sanders, Warren, Ocasio-Cortez und Co. abhält. Dass diese linke Strömung innerhalb der Demokraten so stark werden konnte, auch das ist ein Ergebnis der Trump’schen Revolution.
USA anfällig für Gewaltausbrüche
Trump, vielleicht einer der wirkmächtigsten Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg, hat die Schwelle des Sagbaren und die Grenzen des Vorstellbaren verschoben. Vier Jahre lang hat der „Fake News“-Präsident der erstaunten Welt vor Augen geführt, welche zerstörerische Kraft ein solches Narrativ entfalten kann. Er hat gezeigt, was es bedeutet, sich konsequent dem zu verweigern, was man gemeinhin die Realität nennt.



Die Vereinigten Staaten waren schon immer anfällig für Gewaltausbrüche – die amerikanische Geschichte ist voll davon. Neu ist, dass der Mann an der Spitze des Staates sie propagiert. Wenn Trump am 20. Januar das Weiße Haus verlässt, wird er das politische System tiefgreifend verändert haben. Das erste Opfer seiner Regentschaft war die Wahrheit – und es sollten viele weitere folgen: die Berechenbarkeit Amerikas, dessen politische Kultur, ja der Anstand als solcher.
Was haben wir in den verbleibenden Amtstagen noch alles zu erwarten? Dass Trump zu Überraschungen fähig ist, hat er oft genug bewiesen. Nicht nur auf die Gewinner einer Wahl kommt es in Demokratien an, sondern vor allem auch auf die Verlierer. Die Demokratie ist die einzige Regierungsform, in der sich die Bürger per Wahl eines inkompetenten politischen Führers entledigen können. Das ist die Essenz dieser Herrschaftsform – leider ist es keine Selbstverständlichkeit.
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