Kommentar Beim grünen Stahl haben die europäischen Hersteller keine Zeit zu verlieren

Viele Stahlhersteller wollen zunächst auf Erdgas setzen, bis ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung steht.
Hat man europäische Stahlmanager noch vor einigen Jahren gefragt, wie sie mit der deutlich günstiger produzierenden Konkurrenz aus China mithalten können, dann lautete die Antwort meistens: durch bessere Qualität. Doch zuletzt hat sich dieses Unterscheidungsmerkmal gewandelt: Immer häufiger wird mittlerweile auch auf eine nachhaltigere Produktion verwiesen. Grüner Stahl hat sich so zum Heilsversprechen für die schon lange notleidende Industrie entwickelt.
Dort die schmutzigen Chinesen, hier die sauberen Europäer – so lautet die Botschaft, mit der die hiesigen Hersteller bereits seit einiger Zeit versuchen, einerseits ihre Kunden, andererseits aber auch die Gesellschaft vom Wert ihrer Produkte zu überzeugen. Denn beim Umstieg auf grüne Produktionsverfahren sind sie auf die finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen: Zu groß sind die erforderlichen Investitionen, als dass sie ein Unternehmen allein tragen könnte.
Verführerisches Angebot des Staats
Dabei machen die Stahlhersteller der Politik ein verführerisches Angebot. Denn in kaum einem anderen Industriesektor lassen sich mit vergleichbaren Kosten so große Mengen CO2 einsparen wie in der Stahlindustrie. Doch sich allein darauf zu verlassen, dass der Staat diese Kosten darum automatisch übernehmen wird, wäre gefährlich. Die Wunschliste der gesamten Wirtschaft beim Thema Klimaschutz ist lang – und die Zahl der Beschäftigten in der europäischen Stahlindustrie verglichen mit anderen Sektoren eher niedrig.
Das weiß auch die Stahlbranche selbst, die deshalb unermüdlich darauf verweist, dass ein Aussterben der heimischen Stahlproduktion weder den Abnehmern noch dem Klimaschutz hilft. Denn bei gleichbleibender oder gar steigender Nachfrage, so das Argument, würden außereuropäische Konkurrenten die entstandene Lücke schnell füllen. Auf deren Produktionsbedingungen hat die EU aber keinen regulatorischen Einfluss – was letztlich zu „Carbon Leakage“ führen kann, also dem Auslagern von europäischen Emissionen auf die Klimabilanz laxerer Staaten.
Das Argument ist schlüssig. Jedenfalls solange die Grundannahme gilt, dass die außereuropäische Stahlindustrie weniger nachhaltig produziert als die heimische. Doch ist längst nicht ausgemacht, dass das weiterhin so bleibt. Denn auch China, das sich in den vergangenen Jahren zum wichtigsten stahlproduzierenden Land der Welt aufgeschwungen hat, will seine Wirtschaft dekarbonisieren.
Und die Erfahrungen bei anderen größeren Umbrüchen wie der Digitalisierung oder dem Wandel hin zu elektrischen Antrieben in der Automobilindustrie zeigen: Wenn der politische Wille einmal gefasst ist, kann die Führung in Peking solche Transformationsprozesse in einem rasanten Tempo in der gesamten Volkswirtschaft durchsetzen.
Technologie steht bereits zur Verfügung
Das gilt umso mehr für die nachhaltige Stahlproduktion, wo der Vorsprung der Europäer weniger auf Innovationskraft denn auf regulatorischem Druck beruht. Denn die Technologien, die eine klimaneutrale Stahlherstellung zum Beispiel mittels Wasserstoff ermöglichen, sind heute gut bekannt.
Was fehlt, ist die Erfahrung in ihrer Anwendung. Hier gewinnt derjenige das Rennen, der möglichst früh mit dem realen industriellen Einsatz der Technologie beginnt.
Es ist deshalb gut, dass die europäische Stahlindustrie größtenteils noch deutlich vor 2030 damit beginnen will, grünen Stahl in größeren Mengen zu produzieren. Doch das gilt auch für die chinesischen Konkurrenten, die ihrerseits ebenfalls bereits mit dem Bau von wasserstoffbasierten Reduktionsanlagen begonnen haben.
Wenn die Europäer technologisch weiterhin vorn mitspielen wollen, dürfen sie mit ihren Projekten nicht darauf warten, bis der Staat eine entsprechende Wasserstoff-Infrastruktur schafft. Sondern müssen im Zweifel ihre Produktion dorthin verlagern, wo ausreichend Grundstoffe zur Verfügung stehen.
Ein gutes Beispiel dafür liefert der Hersteller Voestalpine, der bereits 2017 eine Direktreduktionsanlage in Corpus Christi im US-Bundesstaat Texas errichtet hat. Noch wird die Anlage mit Erdgas betrieben, perspektivisch kann das Reduktionsmittel aber durch Wasserstoff ersetzt werden.
Die Standortwahl hat zwei entscheidende Vorteile gegenüber Österreich, dem Heimatland der Voestalpine: Einerseits ist das zunächst benötigte Erdgas in Nordamerika teils um ein Vielfaches günstiger als in Europa. Andererseits verfügt die Region über große Mengen Sonnenenergie, die beispielsweise für die Erzeugung grünen Wasserstoffs verwendet werden kann.
Man kann darin nun „Carbon Leakage“ sehen, weil die Voestalpine durch den vorübergehenden Einsatz von Erdgas einen Teil der eigenen Emissionen an die USA auslagert, wo der Konzern nicht im gleichen Maße wie in Europa von Klimaabgaben belastet wird. Man kann es aber auch als einen Versuch sehen, sich von der europäischen Politik unabhängiger zu machen und das Schicksal bei der Dekarbonisierung in die eigene Hand zu nehmen – im Guten wie im Schlechten.
Mehr: BMW investiert in ein Verfahren zur CO2-freien Stahlherstellung. Ziel ist es, den CO2-Ausstoß in den nächsten zehn Jahren kräftig zu senken.
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