Kommentar Das Coronavirus mahnt die Welt zu mehr Kooperation
Das Schicksal einer Gesellschaft wird zumeist dadurch bestimmt, wie sehr sie ihre Lehrenden achtet. Selbst – oder gerade eben dann – wenn sie unbequem sind. So unbequem wie das Coronavirus.
Sars-CoV-2 ist wohl der bislang größte Schulmeister des 21. Jahrhunderts. Weit mehr als eine Million Menschen auf der ganzen Welt hat das Virus bisher infiziert, etwa 70.000 hat es getötet. Es sperrt uns in unseren Häusern ein, schließt Kindergärten und Schulen. Es räumt Supermarktregale leer, cancelt Urlaubsreisen und Großevents.
Vor kurzem hat es sogar den Leitzins gesenkt. Auch die Grenzen macht es dicht. Selbst in Europa. Kein Wunder, dass die Corona-Pandemie das neue Epizentrum der internationalen Aufmerksamkeit ist. Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler und den ganz normalen Durchschnittsbürger – das Virus beschäftigt uns alle.
Das ist auch gut so, denn: Professor Corona legt der Weltgemeinschaft eine Prüfung vor, für die sie keine Musterlösungen hat. Sie zu bestehen, verlangt Denkstrukturen, die wir zuvor noch nicht erprobt haben und erfordert Handlungsweisen, die wir bisher stringent abgelehnt haben.
Ehrlichkeit zum Beispiel, gegenüber anderen genauso wie gegenüber sich selbst. Allen voran zwingt uns das Virus aber zur Gruppenarbeit – und zwar auf internationaler Ebene.
Musterschüler in grenzüberschreitender Kooperation und transparenter Kommunikation fand man bisher jedoch nur in der Wissenschaft. Professor Corona scheint dieses Narrativ zu ändern: Die Wissenschaftler und ihr Kooperationswille stecken an, infizierten zuletzt sogar Akteure aus Wirtschaft und Politik.
Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Mächtigen und Reichen unseren Geschichtsbüchern zufolge stets so etwas wie Dauer-Immunität gegen Mitmenschlichkeit besaßen. Doch ein neuartiges Virus erfordert neuartige Lösungen – und darin macht sich die internationale Gemeinschaft im Moment ganz gut.
Wenn wir im neuen Jahrzehnt alles so gemeinschaftlich anpacken, wie die Bekämpfung der Corona-Krise, sieht es gut aus für die 2020er-Jahre. Dann ist die frisch angebrochene Dekade vielleicht nicht ganz so düster, wie oftmals prognostiziert.
Musterlösung internationale Kooperation
Die Musterlösung heißt internationale Kooperation und Aufklärung – im digitalen sowie im echten Leben. Umgesetzt wird sie von Forschung, Wirtschaft und Politik zum Teil schon heute. Chinesische Wissenschaftler entschlüsselten den genetischen Code des Coronavirus in Rekordzeit. Gerade mal fünf Tage haben sie dafür gebraucht.
Veröffentlicht haben sie das Genom Anfang Januar auf einer frei zugänglichen Webseite. Warum? Damit jeder darauf zurückgreifen und an einem Impfstoff forschen kann. Datenklau oder Patentrechte interessieren niemanden. Schließlich geht es darum Leben zu retten.
Auch am Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) an der Charité Berlin teilt man, was man weiß. Hier haben Forscher den weltweit ersten Diagnosetest für das Coronavirus entwickelt, wenige Tage später publizierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Testprotokoll – und sorgt dafür, dass seither jedes Land Verdachtsfälle aufklären kann.
Auch einen international abgestimmten Forschungsplan hat die Organisation aufgestellt, nachdem sie Anfang Februar mehr als 300 Gesundheitsexperten aus aller Welt, auf ihrem „Research and Innovation Forum“ in Genf vernetzte.
Mittlerweile sind weltweit etwa 50 Impfstoffprojekte gegen Covid-19-Lungenerkrankung angelaufen, fast täglich veröffentlichen wissenschaftliche Journale neue Ergebnisse der Corona-Forschung – größtenteils kostenfrei und quasi in Echtzeit.
Der Schüler Wissenschaft prescht im Kampf gegen die globale Gesundheitskrise beispielhaft voran, seine kooperativen Lösungsansätze hat sich mittlerweile auch der Schüler Wirtschaft abgeguckt.
So brachte der Schulmeister Corona mittlerweile selbst Konkurrenzunternehmen dazu sich zu formieren: 15 internationale Biotech-Konzerne, darunter Novartis (Schweiz), Sanofi (Frankreich), Glaxo-Smithkline (Großbritannien), die US-Unternehmen Eli Lilly, Johnson & Johnson und Gilead sowie die deutschen Hersteller Boehringer Ingelheim und die Merck KGaA wollen gemeinsam die Entwicklung von Medikamenten, Impfstoffen und Diagnosetools vorantreiben.
Auch bei Corona-Therapien arbeitet die Branche zusammen: Hierfür haben die Europäische Kommission und die europäischen Pharmaverbände bereits vor einigen Wochen mit der Innovative Medicines Initiative (IMI) einen Public Private Partnership ins Leben gerufen, an dem unter anderem Boehringer Ingelheim und Biontech aus Mainz beteiligt sind.
Letzterer schreckt auch die Zusammenarbeit mit Partnern aus Asien nicht: Gemeinsam mit dem chinesischen Pharma-Konzern Fosun Pharma tüfteln die Mainzer an einem besonders aussichtsreichen Impfstoff. Er soll bereits im Mai am Menschen getestet werden.
Ja – hinter derartigen Pharma-Allianzen steckt weder purer Altruismus noch der plötzliche „good-will“ die Welt zu retten. Schließlich ist die Entwicklung von Medikamenten teuer und zeitintensiv. Wer in der Pharmaindustrie zusammenarbeitet, tut sich also in erster Linie selbst einen Gefallen.
Umso besser, wenn’s dafür obendrauf auch noch öffentliche Fördergelder gibt. Aber warum Kooperationen wie diese schlechtreden, wenn auch etwas Gutes für die Gesellschaft dabei rausspringt? Gerade in Krisenzeiten muss man doch nehmen, was man bekommt, oder?
Zum Vergleich: Beim verwandten Sarsvirus, das erstmals 2002 in China auftrat, hat man 20 Monate gebraucht, bis die ersten Tests an Menschen stattfinden konnten. Damals reagierte die internationale Gemeinschaft deutlich langsamer.
Unter anderem deswegen, weil anfangs so viel vertuscht wurde. Nicht von der Wissenschaft, sondern von der Politik. Insbesondere der chinesischen.
Was die Kommunikation nach innen betrifft, setzt man in China auch diesmal eher auf Schweigen. Präsident Xi Jinping bestimmt, was sein Volk über das Virus wissen darf. Der Staatschef meidet öffentliche Auftritte, offizielle Besuche von Kliniken oder Quarantänegebieten gibt es nicht.
Politische Prioritäten stehen in China vor Gesundheitsprioritäten. Aufklärung und transparente Kommunikation – Fehlanzeige.
Was die Zusammenarbeit mit dem Ausland betrifft, hat China aus seinen Fehlern jedoch gelernt. Die Volksrepublik akzeptiert Hilfe von internationalen Experten und kooperiert enger mit der WHO und der Europäischen Union als bei Sars 2002.
Zuletzt lobte die WHO die chinesische Staatsführung für ihr „Engagement“ im Umgang mit der Virus-Epidemie. Auch in Brüssel ist man „nicht unzufrieden“ mit der Pekinger Krisenkommunikation. Mittlerweile ist es China selbst, das Hilfe im Kampf gegen das Virus weltweit anbietet.
Betäubung des Taiwan-Konfliktes
Selbst den Taiwan-Konflikt scheint Professor Corona für einen Augenblick betäubt zu haben: Mitte Februar „durften“ taiwanesische Mediziner zum ersten Mal in der Geschichte immerhin per Online-Zuschaltung an einem Forum der WHO teilnehmen – und das obwohl China den Beitritt des Inselstaats seit Jahren verhindert.
Die Staatspresse sieht im Krisenmanagement Pekings ein Beispiel für den großen Fortschritt Chinas. Die Staatschefs anderer Länder wohlmöglich den Versuch oder zumindest den Willen Chinas, als kooperativer und transparenter Partner aufzutreten – ein Anspruch, der wohlmöglich erst in Post-Corona-Zeiten seine Früchte tragen wird.
Die demokratischen Industrienationen Europas sind derweil ganz besonders um die Aufklärung der eigenen Bevölkerung bemüht. Das Virus lehrt Politikern Klartext zu sprechen, zwingt sie komplexe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, damit letztlich nur das übrig bleibt, was interessiert: Die Fakten, wie in der Wissenschaft.
So frei und zugänglich wie sie, sind plötzlich auch die Botschaften der Politik. Als Vertreter des gesamten Volkes versucht man erstmals auch das gesamte Volk zu erreichen, nicht nur seine Kernwähler.
Der deutsche Staatsapparat wagt sich hierfür sogar an digitale Medien heran: Fast täglich senden Bundesregierung und Ministerien Live-Streams ihrer Pressekonferenzen im Internet.
Informationen zu Covid-19 teilen sie in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. Auf Youtube hat das Bundesgesundheitsministerium sogar eine eigene Coronavirus-Playlist eingerichtet.
Selbst zwischen US-Tech-Konzernen und europäischen Regierungschefs scheint der Krankheitserreger als Mediator aufzutreten: Anfang Februar hat sich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit Twitter zusammengetan, um Fake News einzudämmen.
Auch Google, Facebook, WeChat und Tiktok kämpfen während der Pandemie auf der Seite jener Staaten, deren Gesetze sie ansonsten am liebsten unterwandern. Die Online-Plattformen sorgen ab sofort dafür, dass bei Suchanfragen zu Covid-19 die Informationen der WHO als erstes angezeigt werden.
Auch die Politiker selbst erzieht Professor Corona zu einer zunehmend glaubhafteren Informationsquelle. Die Staatsoberhäupter Europas sagen was sie wissen, gestehen aber genauso gut ein, was sie nicht wissen. Sie präsentieren sich teils überfordert, ratlos, fehlbar – und werden dadurch nahbar fürs Volk.
Fürsorge, so scheint es, ersetzt politisches Kalkül – auch wenn bei einem Virus mit pandemischen Zügen langfristig kein Politiker von beschönigten Toten- und Infiziertenzahlen profitieren würde. Eine Erkenntnis, die jedoch erst Covid-19 den Staatsmännern lehrte.
Regierende in Elfenbeintürmen
Ein kleiner historischer Abriss zeigt: Egal ob Pest, Cholera oder Pocken – die großen Pandemien der Menschheitsgeschichte haben die Mächtigen stets so überstanden, indem sie sich vom Rest der Bevölkerung abschotteten, sich mit den besten Medizinern in ihren Elfenbeintürmchen verschanzten, während das unwissende Volk draußen starb.
Aufgeklärt wurde niemand. Mit verheerenden Folgen für die Regierenden selbst, denn: Nur wer den Feind kennt, kann ihn bekämpfen. Andernfalls sterben die Massen, Soldaten und Bauern verenden, das Volk verarmt. Militärische Verwundbarkeit, Hungersnöte, wirtschaftlicher Stillstand sowie politische Unruhen sind die Folge.
Und damit nicht genug: Mit dem Volk stirbt auch der König – in einer globalisierten Welt gilt das mehr als je zuvor. Dass das Coronavirus nicht vor Ländergrenzen Halt macht, motiviert politische Akteure also nicht nur zu kooperativem Handeln – es zwingt sie förmlich dazu.
Auch wenn Regierungen vielerorts ihre Grenzen schließen und strenge Reisebeschränkungen verhängen, zeigt sich das internationale Staatensystem in historischer Eintracht.
Obwohl Schätzungen davon ausgehen, dass die Coronakrise ökonomische Folgeschäden in Milliardenhöhe anrichten wird, unterstützt sich die Welt gegenseitig – sogar in Geldfragen. Vor kurzem haben die Weltbank und der Internationale Währungsfonds einen Notfallfonds präsentiert.
Mit mehreren Milliarden Dollar soll er „die tragischen Folgen von Covid-19“ für ärmere Mitgliedstaaten „reduzieren“. Darüber hinaus hat die Europäische Union der WHO 114 Millionen Euro für ihren „Preparedness and Response Plan“ bereitgestellt.
Mit ihm will die Organisation besonders anfällige Volkswirtschaften bis Ende April mit insgesamt 675 Millionen Dollar unterstützen. 100 Millionen Dollar davon kommen aus den USA. US-Präsident Donald Trump will zudem sein vierteljährliches Gehalt zur Eindämmung der Coronakrise spenden.
Ob er es tatsächlich macht oder nicht, es beweist immerhin, dass in Krisenzeiten selbst die Personifizierung von Tyrannei und Narzissmus, ab und zu den Drang verspürt, seinen Mitmenschen etwas Gutes zu tun.
Ja, von der großen Harmonie und Eintracht ist diese Welt trotz allem noch weit entfernt. Wie die Firmenbosse der Pharma-Branche oder die Geschäftsführer transnationaler Tech-Konzerne kooperieren auch Politiker vielerorts mit der Aussicht auf eigene Vorteile.
Zum Nachsitzen verdonnert
Wer es sich jetzt mit Handelspartnern verscherzt, dessen Wirtschaft wird Professor Corona besonders lange zum Nachsitzen verdonnern. Auch wenn er den Klassenraum schon längst verlassen hat. Darüber hinaus ist die Corona-Pandemie die Chance, sich als verantwortungsbewusste und fürsorgliche Amtsinhaber zu inszenieren.
Ganz nebenbei lässt sich so auch ein bisschen mehr Staat realisieren. Aber warum den Sinneswandel der Politik schlechtreden, wenn dabei auch etwas Gutes für die Gesellschaft rausspringt? Gerade in Krisenzeiten muss man doch nehmen, was man bekommt, oder?
Ob aus Eigennutz oder nicht – Wirtschaft und Politik sind bemüht aufzuklären. Sie arbeiten zusammen und packen an – und es steht ihnen gut dieser Kooperationswille à la Wissenschaft. Denn Krisen – egal ob medizinischer, wirtschaftlicher, politischer oder klimatechnischer Natur – lassen sich nicht vermeiden, nur bekämpfen.
Am besten durch internationale Zusammenarbeit und Ehrlichkeit – im digitalen sowie im realen Leben. Professor Corona lehrt uns genau das. Damit wir nicht nur seine, sondern auch all die anderen auf uns wartenden Prüfungen der neuen Dekade bestehen.
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