Kommentar Das Verhalten der Regierungsparteien ist angesichts der verzweifelten Lage vieler Afghanen unwürdig

Die Taliban haben die Hauptstadt Afghanistans eingenommen.
Die Bilder aus Afghanistan machen fassungslos. Der Westen hat die Lage vollkommen falsch eingeschätzt. Und sechs Wochen vor der Bundestagswahl schieben sich die Regierungsparteien gegenseitig die Schuld zu. Die CDU bezeichnet SPD-Politiker Heiko Maas als schlechtesten Außenminister, den es je gab. Die Sozialdemokraten retournieren umgehend und werfen der CDU wenig fundierte Meinungen vor.
Es gibt aber weder eine Rücktrittsforderung noch macht Kanzlerin Angela Merkel Anstalten, Maas zu entlassen. Das Thema ist zu ernst für Wahlkampfgetöse.
In der Union geht zudem die Angst um, dass die AfD wieder Auftrieb erhält. Die Partei wird die Lage ausnutzen, um eine neue Debatte über die Flüchtlingspolitik anzufachen. CDU und CSU wiederholen mantrahaft, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Damit ist die dramatische Lage an den deutschen Grenzen gemeint, wo Tausende von Geflüchteten warteten, um nach Deutschland zu kommen. Das damalige „Wir schaffen das“ von Merkel ist bis heute in der Union umstritten.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet haben alle Hände voll zu tun, dass die politische Debatte sachlich bleibt. Auffällig ist, dass SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sich stark zurückhält. Das ist zwar sein Naturell. Er spürt aber, dass der Union das Thema Afghanistan mehr Probleme bereitet als ihm.
Es ist schon peinlich genug, dass Deutschland wegen Visa-Bürokratie so lange gezögert hat, Ortskräfte auszufliegen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung begrüßte im April laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest-dimap den Abzug aus Afghanistan.
Die Worte des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, unsere Freiheit würde auch am Hindukusch verteidigt, war mutige Staatsräson, aber sie war nicht mehrheitsfähig. Das Ergebnis ist hart für die Menschen in Afghanistan.
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Jetzt, wo das Desaster da ist, will es keiner gewesen sein. Die Kanzlerkandidaten von Union und SPD versuchen, Abstand zu halten zu der Regierung. Die Kanzlerin verweist wiederum auf US-Präsident Joe Biden, der die Entscheidung getroffen habe.
Es ist aber auch nicht bekannt, dass Merkel bei ihrem letzten Besuch in Washington für den Verbleib der Truppen geworben hat. Das Verhalten der Regierungsparteien ist unwürdig angesichts der verzweifelten Lage vieler Afghanen.
Lässt man diesen Wahlkampf Revue passieren, stellt man fest, dass nichts planbar ist. Zuerst ging es um Nebeneinkünfte und Plagiate bei der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, dann kam die Flutkatastrophe in Westdeutschland und jetzt das Desaster in Afghanistan. Es gilt die alte Weisheit: Der Wahlkampf sucht sich seine Themen. Das wird nicht das Ende sein.
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