Kommentar – Der Chefökonom: Deutsche Wirtschaft retten: Was gegen die Folgen von Abhängigkeit, Krisen und Krieg getan werden muss

Die deutsche Wirtschaft leidet unter den Folgen der Corona-Pandemie und unter denen des Ukrainekriegs.
Düsseldorf. Man hatte sich daran gewöhnt: Die deutsche Volkswirtschaft galt eine Dekade lang als ökonomisches Kraftzentrum Europas. Aus dem „Sick man of Europe“, wie der „Economist“ Deutschland zu Beginn dieses Jahrhunderts nannte, war das Kraftzentrum des Kontinents geworden. Dank zahlreicher Reformen und weil das Land die globale Finanzkrise 2008/09 schnell überwinden konnte, wuchs die Wirtschaft ordentlich und die Arbeitslosigkeit sank rapide.
Auf ausländische Arbeitskräfte wirkte der wirtschaftliche Aufschwung wie ein Magnet. Statt wie erwartet zu schrumpfen, wuchs die Bevölkerung in Deutschland auf mehr als 83 Millionen. Die gute ökonomische Entwicklung in der zurückliegenden Dekade sanierte die Staatsfinanzen und ermöglichte klientelspezifische Wahlgeschenke wie die Rente mit 63, die die Großen Koalitionen von 2013 bis 2021 zusammenhielten.
Doch kein Boom dauert ewig – und so endeten diese „goldenen Jahre“ noch vor der Pandemie. Zunächst weitgehend unbemerkt, da die Auftragsbücher der Industrie noch prall gefüllt waren. Als Schwächeanzeichen der Branche unübersehbar wurden, tröstete man sich zunächst damit, dass dies lediglich die Folgen neuer Abgasstandards für die Autoindustrie und von Produktionskürzungen im Chemiesektor wegen des Niedrigwassers im Rhein aufgrund des Hitzesommers 2018 wären.
Heute wissen wir: Dies waren Vorboten einer Industrierezession, die sich auf immer mehr Branchen ausweitete. Der Ausbruch der Coronapandemie machte dann endgültig alle Hoffnungen auf eine weitere goldene Dekade zunichte.
Anders als landläufig geglaubt, ist Deutschland ökonomisch keineswegs gut durch die Pandemie gekommen. Die massiven staatlichen Hilfsprogramme haben zwar verhindert, dass die Arbeitslosigkeit dauerhaft anstieg. Erst im zweiten Quartal 2022 erreichte nach neuesten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes das Bruttoinlandsprodukt so gerade wieder das Vorkrisenniveau, während etwa in den USA die wirtschaftliche Gesamtleistung bereits im Frühjahr 2021 wieder über dem Vorkrisenniveau lag.
Das Gleiche gilt für die Niederlande. Auch Frankreich, Großbritannien und Japan haben ihr Vorkrisenniveau wieder überschritten. Kurzum, es besteht die reale Gefahr, dass Deutschland erneut zum kranken Mann Europas wird.
Euro half den deutschen Unternehmen
Die Bundesrepublik war einer der großen Gewinner des nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einsetzenden Globalisierungsschubs. Viele neue Lieferanten und Kunden eröffneten neue Möglichkeiten. Über weltumspannende Lieferketten konnten günstige Rohstoffe und Vorprodukte importiert und daraus im Hochlohnland Deutschland hochwertige Endprodukte produziert und exportiert werden.

Der geopolitische Kurs Chinas ist unklar, etwa wie eng China an der Seite Russlands steht und ob es einen Angriff auf Taiwan vorbereitet.
Zudem befreite der Euro die deutsche Industrie vom Aufwertungsdruck der D-Mark, sodass deutsche Produkte preislich wettbewerbsfähiger wurden. Die Probleme bei den globalen Lieferketten während der Coronapandemie führten zu ersten Blessuren an diesem Geschäftsmodell. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde dann eine fatale Energieabhängigkeit Deutschlands deutlich. Nun steht die Energiesicherheit der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt auf dem Spiel. Die aktuelle Frage ist weniger, ob Deutschland in eine Rezession rutscht, sondern wie lange und wie tief dieser Einbruch sein wird.
Überdies ist der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands in den vergangenen Jahren eng mit dem Aufstieg Chinas verknüpft, das zum wichtigsten Handelspartner avanciert ist. Doch die Wirtschaft im Reich der Mitte stockt. Die radikale Null-Covid-Strategie führt immer wieder zu lokalen Lockdowns, und im wichtigen Immobiliensektor drohen Investitionsblasen zu platzen.
Zudem ist der geopolitische Kurs der politischen Führung in Peking unklar, etwa bei der Frage, wie eng China an der Seite Russlands steht oder ob ein militärischer Angriff auf Taiwan in Vorbereitung ist. Zudem leidet China unter einer markanten Alterung der Bevölkerung, die mittelfristig enorme ökonomische und gesellschaftliche Spannungen verursachen wird.

Strategie gegen Fachkräftemangel: Möglichst alle Jugendlichen so qualifizieren, dass sie fit für den Arbeitsmarkt sind.
Hinsichtlich der Bevölkerungsalterung ist Deutschland dem Reich der Mitte um Jahre voraus. Denn hier wird bereits zum Ende dieser Legislaturperiode ein massiver, fast zwei Jahrzehnte anhaltender Alterungsschub einsetzen. Die Folge: Weniger Erwerbstätige müssen zunehmend mehr Alte finanzieren. Gleichzeitig gibt es schon jetzt – trotz schwächelnder Wirtschaft – bundesweit fast zwei Millionen offene Stellen.
Deutschland kann sich nicht auf Zuwanderung verlassen
Im Gegensatz zur Abhängigkeit von russischer Energie und Vorprodukten aus China sowie den dortigen Absatzchancen besteht mittelfristig keine realistische Möglichkeit, den Folgen der demografischen Entwicklung auszuweichen. Die Fachkräfte des Jahres 2040 sind bereits geboren – aber sich allein auf qualifizierte Zuwanderung zu verlassen, wäre naiv. Bislang scheiterten sämtliche Vorhaben, eine solche Zuwanderung gezielt zu steuern.
Es gilt daher, den Fokus auf das bestehende Arbeitskräftereservoir zu legen, also Arbeitslose oder nur in Teilzeit Beschäftigte. Ein wichtiger Baustein einer Strategie gegen den Fachkräftemangel muss es sein, möglichst alle Jugendlichen so zu qualifizieren, dass sie fit für den Arbeitsmarkt sind.
Im Jahr 2020 verließen 45.000 Jugendliche die Schule ohne Hauptschulabschluss – prekäre Erwerbsbiografien sind bei der Mehrzahl vorprogrammiert. Der neue Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigte jüngst schonungslos die gravierenden Fehlentwicklungen im deutschen Schulsystem auf.
Viele gut qualifizierte Frauen sind teilzeitbeschäftigt. Im Durchschnitt arbeiten erwerbstätige Frauen hierzulande etwa 30 Stunden pro Woche. Nach aktuellen Daten der EU-Kommission sind derzeit in Deutschland rund 28 Prozent der Beschäftigten teilzeitbeschäftigt – knapp elf Prozent der Männer und etwa 47 Prozent der Frauen. Damit sind die Teilzeitquoten deutlich höher als im EU-Schnitt, wo lediglich rund 18 Prozent der Beschäftigten einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen.
Natürlich darf es in einem Rechtsstaat keinen Arbeitszwang geben. Gleichwohl kann die Politik Stellschrauben so justieren, dass Mehrarbeit – insbesondere für Frauen – attraktiver wird. Wichtigster Hebel dabei sind die Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die weiter ausgebaut werden sollten. Darüber hinaus gilt es, die Privilegien für Minijobs stufenweise abzubauen – die von der Regierung beschlossene Ausweitung weist in die falsche Richtung.
Ferner sollte die Steuerklasse 5, die zunächst besonders hohe Abzüge beim Zweitverdiener bedingt, abgeschafft und das Ehegattensplitting kritisch hinterfragt werden. Perspektivisch sollte darüber hinaus die derzeitige kostenlose Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung überdacht werden.
Zudem gibt es gute Gründe, das gesetzliche Renteneintrittsalter mit der Zunahme der Lebenserwartung zu synchronisieren, um das Verhältnis der durchschnittlichen Dauer von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug konstant zu halten. Doch ein Rezept gegen den unmittelbar bevorstehenden Alterungsschub wäre dies sicher nicht. Denn die stufenweise Erhöhung auf 67 Jahre hat fast 20 Jahre beansprucht und wird erst 2031 vollzogen sein.






Jenseits der sich abzeichnenden Rezession werden sich Politik und Bürger darauf einrichten müssen, dass reales Wirtschaftswachstum in Zukunft nicht mehr selbstverständlich sein wird. Das sinkende Arbeitsangebot dämpft die Dynamik, und die Verteilungskonflikte um knappe Steuermittel zur Finanzierung von sozialer Sicherung, Klimaschutz, Landesverteidigung und Wachstumsförderung werden härter.
Wenn dauerhaft mehr umverteilt als erwirtschaftet wird, führt dies zu einem Substanzverzehr von Ressourcen oder Realkapital. Es ist zu befürchten, dass die Bundesregierung dies erst dann erkennen wird, wenn die Wohlstandseinbußen evident geworden sind. Da Einschnitte umso schmerzlicher werden, je länger man sie aufschiebt, sollte eine Wachstumsagenda jetzt auf den Weg gebracht werden.
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