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Kommentar – Der Chefökonom Erhöhung des Renteneintrittsalters: Der Befund ist richtig, die Therapie falsch

Führende Wirtschaftsforschungsinstitute schlagen eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters vor, um die Sozialkassen zu stabilisieren. Doch es gibt auch Alternativen.
23.04.2021 - 10:40 Uhr 3 Kommentare
Seit 2012 wird das gesetzliche Renteneintrittsalter in kleinen Schritten angehoben. Quelle: dpa
Rentner

Seit 2012 wird das gesetzliche Renteneintrittsalter in kleinen Schritten angehoben.

(Foto: dpa)

Die nächsten Jahrzehnte drohen für die deutsche Volkswirtschaft eine Durststrecke zu werden. Nach Schätzungen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute wird sich das bislang bei etwa 1,3 Prozent liegende Potenzialwachstum bereits bis 2025 auf 0,7 Prozent halbieren, schreiben die Institute in ihrem jüngsten Frühjahrsgutachten.

Bis Ende des Jahrzehnts droht das Trendwachstum in Richtung null abzusinken. Grund sei der in wenigen Jahren einsetzende Alterungsschub der Bevölkerung, der das Arbeitsangebot spürbar senken und zudem das ohnehin seit fast 20 Jahren geringe Wachstum der Arbeitsproduktivität weiter zurückgehen lassen werde. Dieser Warnruf ist richtig. Denn es wird schwierig werden, das erreichte Wohlstandsniveau im kommenden Jahrzehnt auch nur zu halten.

Die Folgen der Alterung sind seit Langem bekannt. Dennoch wurde diese Herausforderung in der zurückliegenden, wirtschaftlich guten und durch eine demografische Pause gekennzeichneten Dekade verdrängt.

Alle Rentenreformen der späten 1980er-, der 1990er- und 2000er-Jahre waren geprägt von einem – mit moderaten allgemeinen Leistungsrücknahmen der gesetzlichen Rentenversicherung verbundenen – Streben nach finanzwirtschaftlicher Nachhaltigkeit. Die absehbar weniger werdenden Beitragszahler und Erwerbstätigen sollten mit der Finanzierung der wachsenden Anzahl der zu bedienenden Renten nicht überfordert werden.

Diese Ausrichtung der Rentenpolitik fand ihren vorläufigen Abschluss 2007 mit der schrittweisen Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Auf Betreiben des damaligen SPD-Sozialministers Franz Müntefering wurde damit erstmals das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung angepasst. Denn seit 1912 gingen in Deutschland Angestellte und seit 1916 auch Arbeiter regulär mit 65 in den Ruhestand. Seit 2012 wird das gesetzliche Renteneintrittsalter in kleinen Schritten angehoben. Der Jahrgang 1964 wird der erste sein, für den die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren liegt.

Mütterrente und Rente ab 63 werden zum Problem

Damit wird das Verhältnis von durchschnittlicher Arbeitszeit und durchschnittlicher Rentenbezugsdauer in etwa konstant gehalten. So werden die Kosten der längeren Rentenlaufzeiten in einem festen Verhältnis auf Beitragszahler und Rentenempfänger verteilt.

Mit dem Beginn des sehr langen und beschäftigungsintensiven Aufschwungs zu Anfang des vergangenen Jahrzehnts änderte sich die Einstellung bei den Regierungsparteien. Die SPD versuchte, bei ihrer vermuteten Klientel mit der abschlagfreien Rente ab 63 zu punkten und die Union bei ihren Anhängern mit den Mütterrenten.

Es folgten die bis 2025 geltende doppelte Haltelinie für Beitragssatz und Rentenniveau und die in diesem Jahr in Kraft getretene Grundrente. Diese klientelspezifischen Leistungsverbesserungen konnten dank der hervorragenden Beschäftigungsentwicklung zunächst ohne Anhebung des Beitragssatzes finanziert werden. Doch schon bei Verabschiedung war klar, dass die Finanzierung dieser Leistungen bereits auf mittlere Sicht zum Problem werden würde.

Hinzu kommt nun, dass die Corona-Rezession dauerhaft Produktionspotenzial vernichtet hat und die Wirtschaftsleistung des Landes auf absehbare Zeit um etwa 130 Milliarden Euro pro Jahr geringer sein dürfte als zuvor geplant. Dies führt zu neuen und nachhaltigen zweistelligen Milliardenlöchern in den öffentlichen Haushalten und Sozialkassen.

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Schon die nächste Bundesregierung wird daher mit der Frage konfrontiert sein, wo die zusätzlichen Gelder herkommen sollen, um die Sozialkassen zu stabilisieren. Nach Ansicht der für die Gemeinschaftsdiagnose verantwortlichen Institute wäre es „sinnvoll“, das gesetzliche Renteneintrittsalter angesichts einer steigenden Lebenserwartung schrittweise auf 69 Jahre anzuheben, auch um den absehbaren Rückgang des Potenzialwachstums abzumildern.

Nun stehen bei jeder Rentenreform der Politik zunächst drei versicherungsinterne Stellschrauben zur Verfügung, mit denen das System justiert werden kann: der Beitragssatz, das Rentenniveau oder eben das Renteneintrittsalter. Wenn die Politik glaubt, dass der Spielraum dieser Stellschrauben ausgereizt ist, bleiben nur höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt als letztes Mittel.

Jede Rentenreform ist ein Verteilungskompromiss. Höhere Beiträge belasten die abhängig Beschäftigten und erhöhen die Arbeitskosten. Wer für ein Absinken des Rentenniveaus plädiert, der will nicht die Renten kürzen, wohl aber deren Anstieg verlangsamen.

Und wer mit steigender Lebenserwartung das Rentenalter anheben will, der belastet die zukünftigen Rentner in der Absicht, das Verhältnis von Beitragsjahren und Rentenbezugsdauer konstant bleiben müsse. Dahinter steht das Werturteil: Die zukünftigen Rentenempfänger sollten proportional an den Kosten der mit Lebenserwartung steigenden Rentenlaufzeiten beteiligt werden.

Bei dieser Verteilungsregel handelt es sich um ein Werturteil, das man teilen kann, aber nicht muss. Dies gilt gleichermaßen für die Regel, nach der das derzeitige bei drei zu eins liegende Verhältnis von Personen im Erwerbsalter und Rentnern konstant gehalten werden sollte.

Übersehen wird dabei ein politökonomisches Argument. Mit der beschriebenen demografischen Entwicklung geht eine deutliche Zunahme des bereits heute bei etwa 54 Jahre liegenden Alters des Median-Wählers einher.

Qualifizierte Zuwanderung intensiver fördern

Das bedeutet, dass es für jede nach Regierungsverantwortung strebende Partei höchst riskant wäre, sich für solch eine Anhebung der Regelaltersgrenze starkzumachen. Denn ein sehr großer Teil der Wählerschaft lehnt einen derartigen Schritt entschieden ab. So sei die Prognose gewagt, dass sich eine Anhebung des Renteneintrittsalters weder im Wahlprogramm der Union noch der Grünen oder der SPD finden wird.

Damit stellt sich die Frage nach den Alternativen. Als Erstes sollte die qualifizierte Zuwanderung intensiver gefördert werden. Schließlich dürfte ein maßgeblicher Anteil des XXL-Aufschwungs der vergangenen Dekade auf die hohe Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten zurückzuführen sein. Ob ein Deutschland mit einer rasant alternden Bevölkerung auch in Zukunft eine so hohe Attraktivität ausstrahlen kann, ist alles andere als sicher.

Daher wäre es umso wichtiger, die Anreize für die vorhandene Wohnbevölkerung zu erhöhen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Einen Königsweg zur Erhöhung des Arbeitsangebots gibt es freilich nicht.

Handelsblatt: Prof. Bert Rürup
Der Autor

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Vielmehr hat eine Steigerung der sozialversicherungspflichtigen Erwerbsbeteiligung zahlreiche Facetten, angefangen von geringeren Transferentzugsraten für Langzeitarbeitslose, um eine reguläre Beschäftigung attraktiver zu machen, über den Abbau von Minijob-Privilegien sowie die Förderung der Vollzeitbeschäftigung von Frauen durch bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und nicht zuletzt die Ganztagsschule, eine Reform des Ehegattensplittings bis hin zu höheren Hürden der Frühverrentung und zu Anreizen für ältere Beschäftigte, über das gesetzliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu bleiben.

Darüber hinaus gilt es, den Wirtschaftsstandort Deutschland trotz des demografisch bedingten Fachkräftemangels für Investoren attraktiver zu machen und den volkswirtschaftlichen Kapitalstock zu modernisieren und zu erhöhen.

Dazu zählen neben einer exzellenten Qualifikation der Erwerbstätigen eine moderne Infrastruktur, deutlich zügigere Verwaltungsverfahren, eine sichere, bezahlbare und mit den Klimazielen konforme Energieversorgung sowie nicht zuletzt attraktive steuerliche Rahmenbedingungen.

Unbestreitbar stehen Deutschland drei demografisch sehr schwierige Jahrzehnte bevor. Wachstumsraten wie in der zurückliegenden Dekade wird es nicht mehr geben. Der gewohnte Wohlstand ist bedroht. Den Königsweg, um Deutschland vor der Stagnation retten, gibt es nicht , sondern nur ein ganzes Bündel kleinerer wirtschaftspolitischer Maßnahmen, mit denen die Angebotsbedingungen wieder verbessert werden. Klar ist: Der wachstumspolitische Stillstand der zurückliegenden Dekade muss schnellstens enden.

Mehr: Lesen Sie hier, warum Chefökonom Rürüp meint, dass es keine sicheren Renten gibt.

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3 Kommentare zu "Kommentar – Der Chefökonom: Erhöhung des Renteneintrittsalters: Der Befund ist richtig, die Therapie falsch"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • (...) Beitrag von der Redaktion gelöscht. Bitte bleiben Sie sachlich.

  • Herr Rürup,
    ich stimme ihnen voll und ganz zu, dass unser Rentensystem einer tickenden Zeitbombe gleicht. Doch bevor man wiederholt die gesetzliche Rentenversicherung reformiert, sollte wenigstens ein systemkonformer Nachhaltigkeitsfaktor bei der Beamten Pension eingeführt werden.
    Die Bevormundung der Beamten löst bei vielen Bürgern Unverständnis aus.

    Darüber hinaus sollten Zeitungen/Journalisten berichten, dass jüngste Analysen der Sterbetafeln zu dem Ergebnis kommen, dass Beamte eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als der Rest der Bevölkerung (ca. 4 Jahre!!!). Wäre es vor diesem Hintergrund nicht fair, wenn Beamte zunächst länger arbeiten müssten?

    (Quelle:https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2017/02/lebenserwartung-beamte-022017.pdf?__blob=publicationFile)

  • Norwegen hat in der Hinsicht mit seinem Staatsfonds alles richtig gemacht. Leider hat D. keine nennenswerten Rohstoffe, aber es gibt einen "Schatz", der von der ersten Nachkriegsgeneration in den 50er und 60er Jahren aufgebaut wurde durch gutes Wirtschaften. Diesen gilt es zu heben und zukünftigen Generationen zugänglich zu machen. Wir versorgen heute größtenteils mit aktueller Leistung die jetzigen Rentner. Gibt es aber auch in Zukunft genügend Träger der Gesellschaft? Daher sollte D. einen Staatsfonds aufbauen und über die nächsten 10 Jahre sukzessive insgesamt 1000t (von ca. 3360t) Gold umwandeln und am Kapitalmarkt anlegen. Momentan hätten 1000t Gold einen Wert von ca. 60 Mrd.$. Das gut angelegt analog norwegischer Staatsfonds würde viel bringen. Ich befürworte zwar eigentlich eine möglichst hohe deutsche Goldreserve als Versicherung gegen das unbekannte Unbekannte, aber ich fürchte, die Alternative wäre ein Rentenniveau, das zu großer Verarmung führt und exorbitant hohe Steuern in der Gegenwart. Schon jetzt beträgt der Bundeszuschuss zur Rente 100 Mrd.€/a.... Wer soll das in Zukunft schaffen?!

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