Kommentar Deutschland muss seine Mitbestimmungskultur erhalten – auch in Zeiten der Globalisierung

Nur noch 40 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 36 Prozent im Osten werden durch einen Betriebsrat vertreten.
Berlin Die Gefahr trägt einen lateinischen Namen: Societas Europaea, kurz SE. Viele Kapitalgesellschaften wählen heute diese Rechtsform und schütteln damit die Unternehmensmitbestimmung ab. Diese greift auch nicht, wenn in Deutschland notierte und tätige Firmen ihren Sitz im Ausland haben oder Teile von Konzernen abgespalten werden.
Die zunehmende Internationalisierung und Fragmentierung der Wirtschaft führt dazu, dass der Einfluss der Arbeitnehmervertreter in den deutschen Top-Börsenligen schwindet. Sollte der Dax mit den erwarteten Kandidaten wie geplant auf 40 Mitglieder aufgestockt werden, würden in einem Viertel der Aufsichtsräte keine Arbeitnehmervertreter mehr sitzen, hat die Personalberatung Russell Reynolds gerade ermittelt.
Nicht viel besser sieht es bei der betrieblichen Mitbestimmung aus. Wurden zur Jahrtausendwende noch die Hälfte der Beschäftigten in Westdeutschland und 41 Prozent in den ostdeutschen Ländern durch einen Betriebsrat vertreten, so sind diese Werte auf 40 Prozent im Westen und 36 Prozent im Osten gesunken.
Diese schleichende Erosion der Arbeitnehmervertretung in Aufsichts- und Betriebsräten sollte zu denken geben – erst recht im Jubiläumsjahr der Montanmitbestimmung, die es seit nunmehr 70 Jahren gibt.
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Sehr weitreichende Arbeitnehmerrechte in Deutschland
Zieht man den Vergleich mit dem Ausland, dann geht Deutschland zwar mit sehr weitreichenden Arbeitnehmerrechten einen Sonderweg. Doch deutsche Unternehmen sind nicht trotz, sondern wegen der sehr besonderen Mitbestimmungskultur wirtschaftlich erfolgreich.
Gerade wenn es hart auf hart kam – nach der Finanzkrise 2008 oder jetzt in der Corona-Pandemie –, haben Arbeitnehmer und Arbeitgeber konstruktiv zusammengewirkt und Schlimmeres verhindert.
Ja, es kann für Unternehmen lästig sein, die Arbeitnehmer einzubinden – und zeitraubend noch dazu. Doch Unternehmen mit starker Mitbestimmung bilden mehr aus, bieten sicherere Arbeitsplätze, berufen mehr Frauen in den Aufsichtsrat und handeln nachhaltiger. Kurz: Sie werden ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung oft besser gerecht als Firmen, in denen allein der Chef das Sagen hat.
Der Widerspruch der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat, die kritische Äußerung des Betriebsrats erinnern immer wieder daran: Unternehmertum darf sich nicht allein darin erschöpfen, den Shareholder-Value zu mehren.
Der ehrbare Kaufmann nimmt die Belange der Beschäftigten, der Umwelt und der Kunden ebenso in den Blick wie die berechtigten Gewinninteressen seiner Geldgeber. Diese Haltung sollte auch Kapitalgesellschaften eine Verpflichtung sein.
Weniger Manchester-Kapitalismus, mehr übergreifender Interessenausgleich – darauf zielt die Mitbestimmung. Sie ist damit ein zentrales Element der Sozialen Marktwirtschaft.
Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen die Digitalisierung, die Dekarbonisierung, die Globalisierung und jetzt auch noch eine Pandemie Wirtschaft und Gesellschaft vor ganz neue Herausforderungen stellen. Keiner der Megatrends wird sich gestalten lassen, ohne die Beschäftigten dabei mitzunehmen.
Investitions- und Standortentscheidungen können heute oft Auswirkungen auf ganze Industriezweige und Hunderttausende Arbeitnehmer haben.
Mitbestimmung darf nicht vom Standortvorteil zum -nachteil werden
Das Mitbestimmungs- und das Betriebsverfassungsgesetz haben aber schon lange kein Update mehr bekommen, das ihnen erlauben würde, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten – sieht man von dem erst vor wenigen Wochen in Kraft getretenen Betriebsrätemodernisierungsgesetz ab.
Fast alle Parteien machen in ihren Programmen deshalb Reformvorschläge, die von der Erhaltung der Mitbestimmungskultur in der digitalen Arbeitswelt über die Absenkung der Schwellenwerte für die paritätische Vertretung im Aufsichtsrat bis hin zur Ausweitung der Mitbestimmung auf Unternehmen mit ausländischer Rechtsform reichen. Der Wähler kann also mitentscheiden, wie weit der Einfluss der Arbeitnehmer im Wirtschaftsleben reichen soll.
Dass es dabei Grenzen gibt, leuchtet ein. „Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik“, sagt der Volksmund. Das gilt auch im Wirtschaftsleben. Der Vertretungsanspruch der Arbeitnehmer darf nicht so überdehnt werden, dass die unternehmerische Freiheit in Gefahr gerät.
Auch ist darauf zu achten, dass die Mitbestimmung nicht vom Standortvorteil zum Standortnachteil wird, weil sie ausländische Investoren verprellt. Bisher jedenfalls haben sich internationale Konzerne wie Amazon oder Tesla nicht abschrecken lassen.
Was auch immer die künftige Regierung plant: Leichtfertig wäre es, die Mitbestimmung sehenden Auges einfach weiter erodieren zu lassen. Denn es steht nicht weniger auf dem Spiel als ein Stück gelebte Wirtschaftsdemokratie.
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