Kommentar: Die Corona-Epidemie offenbart eine grundlegende Schwäche im Staatsaufbau

Der Föderalismus zeigt gerade in der Seuchenbekämpfung strukturelle Schwachstellen.
Krisen und Katastrophen sind stets eine Chance für Politiker, sich als Macher zu inszenieren. So gilt der damalige Innensenator Helmut Schmidt noch heute als großer Retter Hamburgs während der Jahrhundertflut 1962, Gerhard Schröder marschierte 2002 in Gummistiefeln durch das Elbhochwasser, und Angela Merkel bewahrte gemeinsam mit Peer Steinbrück Deutschland Ende 2008 mit staatstragender Miene vor einem befürchteten Bankensturm.
Heute kämpfen Markus Söder und Armin Laschet darum, wer das Gesicht der Union in der Coronakrise ist – und damit die beste Startposition hätte, im nächsten Jahr ins Kanzleramt einzuziehen. Söder präsentiert sich als oberster Seuchenbekämpfer, der die anderen Bundesländer vor sich hertreibt, wenn es um Einschränkungen von Bürgerrechten geht.
Laschet spielt die Rolle des abwägenden, besonnenen Landesvaters und versucht, den Ton und Stil der gerade jetzt hoch angesehenen Kanzlerin zu kopieren – gerade in der Stunde der Not müsste die gebotene Kooperation zwischen 16 Staatskanzleien eigentlich anders aussehen.
So offenbart die Corona-Epidemie eine grundlegende Schwäche im Staatsaufbau. Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten die westlichen Siegermächte darauf, dass die Bundesrepublik eine möglichst schwache Zentralinstanz erhalten sollte. In den vorbereitenden Beratungen des Grundgesetzes war zunächst umstritten, wie viel Macht die Länderkammer erhalten sollte.
CDU und CSU wollten die vollständige Gleichberechtigung von Bundesrat und Bundestag, was an der SPD scheiterte. Stattdessen erhielten die Länder umfassende Mitspracherechte und Zustimmungspflichten im Gesetzgebungsverfahren.
Zunächst sah das Grundgesetz klar abgegrenzte Zuständigkeiten von Bund und Ländern vor. Seit den 1970er-Jahren stieg die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze jedoch rapide an, weil die erste Große Koalition 1969 die „Gemeinschaftsaufgaben“ ins Grundgesetz eingefügt hatte. Fortan wirkte der Bund bei der Erfüllung von genuinen Aufgaben der Länder mit, wenn diese für die Gesamtheit der Bürger bedeutsam sind.
Zeitgleich entwickelte sich der Bundesrat zu einem parteipolitischen Blockadeinstrument, sofern die Mehrheiten dies zuließen. Letztlich läutete der Verlust der Mehrheit im Bundesrat sowohl das Ende der Ära Helmut Kohl als auch das Aus für Kanzler Gerhard Schröder ein.
Zwei Föderalismuskommissionen reduzierten diese Blockademöglichkeiten zu Beginn dieses Jahrhunderts wieder, indem die Kompetenzen entflochten wurden. Allerdings ließen sich die Länder in den Folgejahren immer mehr Befugnisse vom Bund abkaufen: Sie verzichteten freiwillig auf Macht im Tausch gegen Geld. Auch deshalb nahm die Zustimmung zum Föderalismus ab.
Alle verantwortlich, keiner zuständig
Die Bürger sind genervt von 16 verschiedenen Schulsystemen, 16 Bauordnungen und 16 Landesverfassungsschutzämtern, die weder in der Lage waren, den bekannten Berlin-Attentäter Anis Amri aufzuhalten, noch die Mordserie des NSU zu erkennen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble beschrieb 2019 die Lage so: „Gelebter Föderalismus bedeutet heute zu oft Kompetenzwirrwarr, diffuse Verantwortlichkeiten, einen Wust an miteinander verschränkten Verhandlungsarenen und eine intransparente föderale Finanzverflechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle sind für alles zuständig, und niemand ist für irgendetwas verantwortlich.“
Dieser Tage fanden Schäubles Worte neuerliche Bestätigung. Das Rheinland feierte Karneval, obwohl Corona auf dem Vormarsch war. In Berlin sollten Fußballspiele stattfinden, während große Messen bereits abgesagt waren. Mancherorts wurden Treffen ab 100 Personen unterbunden, während anderenorts noch mit 1 000 Personen gefeiert wurde. Dabei sind Ländergrenzen definitiv kein geeignetes Kriterium zur Abgrenzung von Risikozonen.
Kurzum: Die Bevölkerung gewann den Eindruck, dass es weder einen koordinierten Plan gegen die Epidemie gab, noch dass die zuständigen Länder willens waren, einen solchen Plan zu erarbeiten.
Für eine effiziente Bekämpfung des Virus sollten sämtliche Daten zentral gesammelt und ausgewertet werden. Dann gilt es, regional gestaffelte Eindämmungsmaßnahmen zu planen und zu erlassen sowie die medizinischen Ressourcen dort zu bündeln, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Insofern ist es richtig, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nun das Infektionsschutzgesetz ändern will, damit der Bund mehr Macht erhält. Dieses Gesetz ist ein Bundesgesetz, das von den Ländern ausgeführt wird. Eine ergänzende Zuständigkeit des Bundes gibt es bislang nicht. Spahn plant nun, dass der Bund einer Destabilisierung des gesamten Gesundheitssystems vorbeugen und dazu geeignete Maßnahmen erlassen kann.






Sofern die Bundesregierung eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ feststellt, soll ein nationaler Epidemiefall ausgerufen werden können, wodurch der Bund umfassende Rechte bekäme. Am morgigen Freitag sollen die Länder ihrer eigenen Entmachtung im Bundesrat zustimmen.
In der Sache wäre dies eine Modernisierung der Organisation der Seuchenbekämpfung. Staatspolitisch wäre es aber das Eingeständnis der Länder, dass der Föderalismus erneut versagt hat.
Mehr: Der Staat greift im Kampf gegen Corona nach immer mehr Macht.





