Kommentar: Die Doppelmoral der deutschen Energiewende

Die Solarindustrie hat ein Problem.
Grüner Strom für ein grünes Gewissen. Klingt gut. Aber so einfach ist es nicht. Zumindest dann nicht, wenn es um Solarmodule auf Häusern, Äckern und Feldern geht. Seit Monaten stehen schwere Vorwürfe gegen die Solarbranche im Raum: Die Hersteller scherten sich nicht um Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und massenhafte Internierungen von über einer Million Menschen in der chinesischen Region Xinjiang, einer wichtigen Rohstoffregion für die weltweite Solarproduktion.
Das trifft auch Unternehmen in Deutschland über die Solarmodule chinesischer Hersteller, die das in Xinjiang hergestellte Material in ihren Anlagen verarbeiten. Ein Problem, mit dem die Textilindustrie schon seit Jahren kämpft, hat nun also die vermeintlich unantastbar nachhaltige Solarindustrie erfasst.
Eine große Überraschung ist das nicht. Weder für die involvierten Unternehmen in Deutschland noch für die Bundesregierung. Schließlich sind Menschenrechtsverletzungen durch China, besonders gegen die muslimische Minderheit der Uiguren, seit Jahren bekannt.
Ausarbeitungen unabhängiger Universitäten, Augenzeugenberichte und vor allem die neuen US-Sanktionen gegen chinesische Solarkonzerne aus der Region erhöhen den Druck jetzt allerdings so sehr, dass Politik und Unternehmen sich nicht mehr wegducken können.
Sollte man zumindest meinen. Während deutsche Solarkonzerne sich mit schriftlichen Versicherungen ihrer Lieferanten herausreden, die allerdings in keiner Weise überprüfbar sind, verweist die Bundesregierung lediglich auf wiederholte Aufforderungen an die chinesische Regierung.
Die Abhängigkeit vom Polysilizium aus Xinjiang ist groß
Die Lage ist vertrackt, keine Frage. Fast die Hälfte der weltweiten Polysilizium-Produktion, dem wichtigsten Rohstoff der Solarindustrie, stammt aus der betroffenen Region Xinjiang. Erst nach mehreren Produktionsschritten kommt das fertige Modul dann nach Deutschland.
Für Solarparkplaner wie EnBW oder BayWa Re ist es schlicht unmöglich, zu kontrollieren, wo das in ihrer Anlage verbaute Material genau herkommt. Denn schon vorher wird das Silizium meist aus mehreren Quellen im wahrsten Sinne des Wortes zusammen in einen Topf geworfen.
Die Hersteller, die den Rohstoff in ihren Modulen verwenden, beherrschen zudem einen Großteil des weltweiten Solarmarkts. Alternativen gibt es nur begrenzt und würden deutlich mehr kosten. Das würde die Preise für Solarparks wieder nach oben treiben, die es ja gerade erst über die Grenze der Wirtschaftlichkeit hinaus geschafft haben. Projekte wären nicht mehr rentabel und würden in der Folge nicht gebaut. Die Energiewende geriete weiter ins Stocken.
Die Bundesregierung wiederum will einen Handelskonflikt mit China verhindern, einem wichtigen Absatzmarkt für viele deutsche Unternehmen, zum Beispiel aus der Auto- oder Chemieindustrie. Und einem wichtigen Lieferanten für die Autoindustrie, die Halbleiterbranche und natürlich den Solarmarkt.
Es ist das altbekannte Problem: Im eigenen Land herrschen die strengsten Arbeitsauflagen und Standards, aber was im Ausland auf Kosten der hehren Umweltziele passiert, wird billigend in Kauf genommen. Mal ganz davon abgesehen, dass die energieintensive Siliziumproduktion in Xinjiang durch staatlich subventionierten Kohlestrom befeuert wird. So viel zum grünen Gewissen.
Nichts zu tun ist keine Option
Die Lösung ist kompliziert. Nichts zu tun ist aber erst recht keine Option. Zumindest auf europäischer Ebene scheint nun ein bisschen Bewegung in das Thema zu kommen. Ein europäisches Lieferkettengesetz wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch dann bleibt das Problem der Kontrollierbarkeit bestehen. Sich auf die Versicherungen chinesischer Unternehmen unter dem wachenden Auge ihrer autokratischen Regierung zu verlassen, befreit die Zwangsarbeiter nicht aus ihrer Situation.
Entweder unabhängige Kontrolleure erhalten Zugang zu den Produktionsstätten, oder die deutschen Unternehmen müssen Produktionskapazitäten außerhalb Chinas aufbauen. Am besten beides. Das ist zwar keine weltweite Lösung, wäre aber immerhin ein Anfang. Es muss endlich etwas passieren.



Das Gesellschaft, Politik und Unternehmen so weitermachen, als gäbe es keine Zwangsarbeit für die deutsche Energiewende, ist an Doppelmoral kaum zu überbieten. Wirklich nachhaltig ist die Energiewende erst dann, wenn man sich auch mit ihren Schattenseiten auseinandersetzt.
Mehr: Vorwurf Zwangsarbeit – Das China-Problem der deutschen Solarindustrie





