Kommentar Die Grünen stehen vor der Bewährungsprobe

Die Windbranche gehört zu den Gewinnern der Energiewende. Andere Branchen stehen enorm unter Druck. Die Grünen müssen sich zur Industrie bekennen.
Wer in der aktuellen Ausgabe des Grünen-Mitgliedermagazins blättert, stößt gleich zu Anfang auf eine umfassende Rezension des jüngsten Buches von Mariana Mazzucato. Die Professorin gehört zu den Stars der Ökonomenzunft.
Um den Kapitalismus unserer Zeit zu charakterisieren, benutzt sie das Bild eines Wagens, der sich im Schlamm festgefahren hat: Es gibt kein Vor und kein Zurück. Und darum muss sich etwas Grundsätzliches ändern.
Mazzucato spricht vielen Grünen aus der Seele. Mit ihrer kritischen Sicht auf kurzfristige Profitmaximierung in Kombination mit dem Raubbau an der Natur rührt Mazzucato an Kernthemen der Grünen.
Eine der zentralen Botschaften der Italoamerikanerin, die im Kampf gegen die Corona-Pandemie noch an Bedeutung gewonnen hat: Regionen und Staaten, die massiv in die Leistungsfähigkeit ihrer Infrastruktur, in Klimaschutz, in Bildung und Forschung investieren, sind in Krisenzeiten widerstandsfähiger als solche, die in den vergangenen Jahren Kürzungsorgien im öffentlichen Sektor – inklusive Gesundheitssystem – durchlebt haben.
Schon vor Jahren hat Mazzucato darauf aufmerksam gemacht, dass die Erfolge der von vielen bewunderten US-Internet-Giganten nicht etwa allein auf der Kühnheit ihrer Gründer beruhen; vielmehr sei die Basis ihres Erfolgs auch in den massiven Investitionen des US-Verteidigungsministeriums in Entwicklung und Aufbau des Internets zu sehen.
Grüne sind in der Marktwirtschaft angekommen
Es ist natürlich kein Zufall, dass die Ideen der Ökonomin in der Mitgliederzeitschrift der Grünen prominent ausgebreitet werden. Längst hat die Partei einen Teil dieser Ideen für sich adaptiert. Das spiegelt sich im Entwurf des Wahlprogramms der Grünen wider. Darin spielt die Forderung nach öffentlichen Investitionen von 50 Milliarden Euro pro Jahr eine zentrale Rolle.
Nun mag man Mazzucato alles Mögliche vorwerfen und die Grünen dafür kritisieren, sich an ihr zu orientieren. Man kann der Ökonomin allerdings nicht unterstellen, Sozialismus zu predigen. Die Grünen als Wirtschaftsschreck zu diffamieren mag für Konservative oder Liberale im bevorstehenden Bundestagswahlkampf eine große Verlockung sein.

Gerechtfertigt ist es indes nicht. Über fragwürdige Passagen im Entwurf des Wahlprogramms, etwa zur Regulierung von Mieten, muss man dabei zwar großzügig hinwegsehen. Große Teile der Grünen scheinen aber längst in der Marktwirtschaft angekommen zu sein – und das ist gut so.
Natürlich wird es nicht einfach für die Grünen, einen Kurs zwischen verträumter Staatsgläubigkeit und einem Staat zu finden, der mit geschickt eingesetztem Geld die Privatwirtschaft zu Höchstleistungen bringt. Einen Kurs, der Innovationen in den Mittelpunkt rückt, der die Digitalisierung vorantreibt und gleichzeitig beim Klimaschutz vorankommt, ohne einzelne Branchen in ihrem Bestand zu gefährden.
Hier liegt der Kern des Problems: Der von den Grünen seit Langem angestrebte – und mittlerweile ja auch von den meisten anderen Parteien geforderte – Umbau scheint möglich. Aber er darf nicht von Kräften bestimmt werden, die die Welt in Freund und Feind aufteilen und ihre Ziele mit Verboten statt mit Anreizen erreichen wollen.
Es gibt seit Jahren Branchen, die vom Kampf gegen den Klimawandel ökonomisch massiv profitieren. Ihre Anlagen werden gekauft, weil es eine rot-grüne Regierung vor über 20 Jahren vermocht hat, eine üppige Förderung für den Bau von Windrädern und Photovoltaikanlagen aufzubauen, die im Kern bis heute Bestand hat.
Ideen richtig umsetzen
Auf der anderen Seite des Spektrums aber gibt es Branchen und Unternehmen, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Sie betreiben etwa Stahlwerke oder Chemieanlagen. Diese Unternehmen leiden unter hohen Energiepreisen und tragen vielfach Lasten, die ihre Wettbewerber jenseits der deutschen Grenzen nicht kennen. Das schwächt sie enorm.
Es ist kein Zufall, dass Unternehmen dieser Branchen seit Jahren weniger investieren, als sie abschreiben. Sie zehren also ihre Substanz auf. Dieser Teil der Wirtschaft muss um jede Entlastung kämpfen, die es ermöglicht, die Kostensituation den internationalen Wettbewerbern wieder etwas anzunähern.
Echter Fortschritt wäre es, wenn die Grünen es schafften, hier etwas Grundsätzliches klarzustellen: Wir helfen diesen Branchen aktiv, wir betrachten sie nicht als lästige Bittsteller, sondern tun alles dafür, den erforderlichen Transformationsprozess zu ermöglichen.
Die Botschaft muss lauten: Ja, wir wollen energieintensive Unternehmen in Deutschland haben, die stark und innovativ sind. Die Chance, der Welt zu zeigen, dass man Industrieland bleiben, wirtschaftlich erfolgreich sein und klimaneutral werden kann, ist riesengroß.
Wenn es den Grünen im Falle einer Regierungsbeteiligung gelingt, ihre Vision des sinnvoll investierenden Staates umzusetzen, der die richtigen Ideen anstößt und Modernisierung auf allen Ebenen vorantreibt, könnte Deutschland gewinnen.
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