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KommentarDie Koalition sollte die Illusion großer Reformprojekte aufgeben

Der Protest junger Abgeordneter in der Rentenpolitik ist genauso richtig wie der Aufstand in der Wehrpolitik. Trotzdem wird beides zu nichts führen. Ein Grund, warum das kein Problem ist.Sven Prange 15.10.2025 - 13:52 Uhr aktualisiert
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Kanzler Merz, Sozialministerin Bas: Machen, was möglich ist. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Lebenslanges Lernen gilt ja als eine der Schlüsselqualifikationen auf einem Arbeitsmarkt, der sich so rasant ändert wie nie. Insofern stimmt es hoffnungsfroh, dass der oberste Angestellte der Republik mit gutem Beispiel vorangeht. Man kann Bundeskanzler Friedrich Merz nahezu täglich dabei zuschauen, wie er lernt, was ihm andere schon vor Amtsantritt hätten sagen können: dass Regieren komplizierter ist, als sich ein Oppositionsführer das so vorstellt.

Wie schwierig das mit dem Lernen dagegen schon in jungen Jahren sein kann, zeigen derzeit 18 junge Unionsabgeordnete. Die wollen einem Rentengesetz nicht zustimmen, weil sie es für nicht enkelfähig halten. Sie mögen somit sehr viel Richtiges über den Zustand der Rentenkasse gelernt haben. Aber sehr wenig über Politik. Womit wir wieder bei der Lernkurve des Kanzlers wären.

Eine der großen Schwächen dieser Regierung ist das Erwartungsmanagement. Vielen Regierenden wohnt eine angesichts der wirtschaftlichen und atmosphärischen Lage des Landes durchaus berechtigte Ungeduld inne, etwas zu ändern. So entstanden Ankündigungen eines „Herbstes der Reformen“ oder von zehn Milliarden Euro Einsparpotenzial beim Bürgergeld. Längst ist klar, dass beides nicht kommt. Wer aber erst Erwartungen schürt, die er dann nicht erfüllt, produziert Frust.

Dieses Eingeständnis über Reformen ist nun nötig

Stattdessen ist es Zeit für ein Eingeständnis: Den großen Wurf bei den Reformen der Sozialsysteme wird es nicht geben. Das soll nicht heißen, dass dieser nicht sachlich geboten wären. Im Gegenteil. Er ist nur extrem unrealistisch. Schon, aber nicht nur, wegen der immensen Zahl an Wahlen, die mit dem Beginn des Jahres 2026 das Land ereilen und politisch lähmen werden.

Es gibt natürlich die tollsten Konzepte aus der Ökonomie, wie sich die Probleme der Sozialkassen lösen ließen. Der Punkt ist nur: Es ist Aufgabe von Ökonomen, zu beschreiben, was möglich sein könnte. Es ist Aufgabe der Politik, zu entscheiden, was möglich ist.

Und, wie es der Bundeskanzler neuerdings formuliert: Ein Durchregieren der Reformambitionierten ist nicht möglich, weil die Wahlbevölkerung kein entsprechendes Mandat erteilt hat. Oder allgemeiner formuliert: Die Prozessdefizite einer parlamentarischen Demokratie verbünden sich mit der Transformationserschöpfung der Bevölkerung gegen jeden, der Dinge schnell und umfassend ändern will.

Eingang einer Arbeitsagentur: Erster Reformschritt gelungen. Foto: dpa

Das Gegenstück der Ambitionskraft einer Regierung ist eben die ökonomische Reife der Bevölkerung. Je mehr beides übereinstimmt, desto besser geht es voran.

Das Land sollte sich deswegen auf die Chancen besinnen, die die derzeitige Lage auch beinhaltet. Nicht in dem Sinne, dass man sich einlullen lässt von jenen, die es gerade im sozialdemokratischen Teil der Regierung und ihrem Vorfeld gibt, die Entscheidungen in Kommissionen auslagern, um am Ende nichts entscheiden oder gar verändern zu müssen. Sondern in Form eines Vertrauensvorschusses auf Grundlage der Realitäten. Die Einigung zum Bürgergeld in der vergangenen Woche zeigt: Man kann dieser Koalition vielleicht doch etwas zutrauen, wenn man sich auf Schritt-für-Schritt-Prozesse einlässt.

Was Hoffnung auf Lösungen macht

Zudem es keine empirische Evidenz dafür gibt, dass der Traum vom großen Wurf bei Reformanstrengungen realistisch ist. Bei Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, etwa jagte ein bombastischer Reformplan den anderen – mittlerweile steht er vor den Trümmern der fünften Republik. Auch Donald Trump neigt zum großen Wurf. Dass es die Lage der USA ökonomisch verbessert, ist nicht absehbar.

Und auch beim Blick nach innen relativiert sich die Erwartungshaltung. Die letzte große Sozialstaatsreform, die unter dem Schlagwort „Hartz“ berühmt wurde, war eine mutige Entscheidung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Der Schnellschuss eines einsamen Kämpfers war sie nicht. Vom Arbeitsbeginn der Reformkommission bis zur Umsetzung dauerte es drei Jahre und unendlich viele Zwischenschritte.

Ex-Manager Hartz (l.), Ex-Kanzler Schröder: Drei Jahre, Schritt für Schritt. Foto: dpa

Was man daraus lernt: Große Würfe funktionieren in Autokratien schon nicht, sind dort aber für das Image des alles entscheidenden Anführers à la Trump notwendig. Eine funktionierende Demokratie mag langsam sein, am Ende erzielt sie aber womöglich Ergebnisse. Es braucht dafür eine Idee für ein Ziel, dann aber auch die Ausdauer und die Fähigkeit, den Weg dorthin in viele kleine, realistische Schritte zu zerlegen. Drei Dinge scheinen deswegen nun geboten:

Die Bundesregierung sollte keine Erwartungen schüren und die Öffentlichkeit keine pflegen, die dann nicht einzuhalten sind. Stattdessen gilt es, die Themen zu nehmen, die im Land konsensfähig sind – eine Mehrheit will ein effizientes Gesundheitssystem, ein flexibles Renteneintrittsalter oder dass Leistung sich mehr lohnt als Arbeitslosigkeit –, und diese in einem ersten Schritt zügig umzusetzen. Für die kontroversen Themen bleibt dann immer noch Zeit.

Verwandte Themen Friedrich Merz Donald Trump Bürgergeld Koalition Sozialpolitik

Je mehr Bürgerinnen und Bürger auch den Teil absehbarer Sozialreformen akzeptieren, die den eigenen Komfortraum einschränken, desto schneller geht es voran. Und die Wirtschaft sollte die Reformnotwendigkeiten klar benennen, aber nicht den Maßstab für das Machbare verlieren.

Gelingt das nicht, wenden sich die Menschen weiter jenen zu, die die ganz großen Würfe versprechen. Dass sie dann allerdings deutlich schneller vor den Trümmern ihrer bürgerlichen Existenz als vor den Früchten wichtiger Reformen stehen, werden sie erst merken, wenn es zu spät ist.

Mehr: „Der Taschenspielertrick mit Bärbel Bas wird nicht funktionieren“

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