Kommentar Die Purpose-Debatte in Deutschland muss sich in Corona-Zeiten dringend verändern

Corona hat die Sinndebatte in vielen Unternehmen auf den Kopf gestellt. Eine Chance für das Thema Purpose.
Auf vielen Hauptversammlungen durfte eine Managementvokabel im Corona-Jahr 2020 nicht fehlen: Purpose. Die große Frage nach dem Sinn und Zweck, die so viele Unternehmen lange Zeit nur so unkonkret beantworten konnten. Doch Corona bewegt hier etwas: Schließlich ist die Pandemie eine Art Crashkurs für viele Warum-Fragen, die sich Unternehmenslenker in diesen Tagen stellen.
Es gibt zu wenig Desinfektionsmittel? Warum produzieren wir dann nicht welches, wenn wir doch dazu in der Lage sind? Viele Corona-Tests sind noch zu ungenau? Wieso entwickeln wir nicht wirksamere Methoden, wenn wir das Know-how haben?
Gerade zu Beginn der Pandemie haben sich auf diese Weise viele Unternehmen gesellschaftlich profiliert und Sympathien in Bevölkerung und Belegschaft gewonnen. Mittelständler wie der Textilfabrikant Trigema, der seine Produktion auf Stoffmasken umgestellt hat, sind darunter. Auch Dax-Konzerne wie BASF oder Beiersdorf, die Desinfektionsmittel spendeten.
Dementsprechend verwundert es wenig, dass für die meisten der 30 größten börsennotierten Konzerne in Deutschland der unternehmenseigene Zweck in der Krise noch einmal wichtiger geworden ist, wie eine Umfrage des Handelsblatts unter Dax-Konzernen belegt.
Auch die großen Unternehmensberatungen im Land reiben sich angesichts gestiegener Nachfrage und netter Positivgeschichten in Krisenzeiten die Hände. Doch spätestens an dieser Stelle ist Skepsis angebracht.
Corona hat die Purpose-Debatte disruptiert
Schließlich hat die Pandemie gezeigt, dass es beim Unternehmenszweck weniger um powerpointtaugliche Hochglanzkonzepte als vielmehr um Pragmatismus geht. So wird die Purpose-Debatte der vergangenen Jahre derzeit durch einen Corona-typischen Begriff disruptiert: Systemrelevanz. Ob ein Unternehmen einen ausformulierten Purpose hat, ist in dem Zusammenhang herzlich egal. Was zählt, ist, ob und wie Firmen in der Krise gesellschaftlich Verantwortung übernehmen.
Dass es selbst den härtesten Kapitalismusfans damit ernst zu sein scheint, beweist Amerikas Business Roundtable. So hat der Dachverband führender US-Unternehmen, zu dem Konzerne wie Amazon, Blackrock, JP Morgan Chase gehören, schon im August 2019 in einem „Statement of Corporate Purpose“ mit dem Shareholder-Value-Prinzip gebrochen, dem Kodex, wonach traditionell zuerst die Interessen der Aktionäre bedient werden.
Stattdessen wollen die knapp 200 US-Bosse des Roundtable den Fokus erweitern: auf Investitionen in Mitarbeiter, Umweltschutz und einen fairen und ethischen Umgang mit Zulieferern. Mitten in der Krise haben die Topmanager diesen Kursschwenk noch einmal bekräftigt. Das macht glaubhaft sichtbar: Amerikas Big Business hat seit der Finanzkrise dazugelernt.
In Deutschland prägt aktuell der Staat die Sinndebatte
Auch in Deutschland wurden mit den aktuellen Forderungen nach einem Lieferkettengesetz und nach einer „Gesellschaft in Verantwortungseigentum“ ähnliche Diskussionen gestartet. Der Zeitpunkt inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit Kriegsende ist kein Zufall.
Auch wenn die Diskussion in typisch deutscher Weise geführt wird: Wo sonst würde man im Zusammenhang mit verantwortungsvollem Wirtschaften erst mal über eine 36 Buchstaben lange neue Rechtsform streiten? Genau: nirgends.
Was auffällt: In Deutschland prägen aktuell Staat und Politik die Sinndebatte. Von wirklich verantwortungsvollen Unternehmen muss in der Krise deshalb zwingend mehr kommen als das Phrasen-Topfschlagen der letzten Jahre, in dem Konzerne ihre Manager auf Sinnsuche geschickt haben – mit dem Ergebnis, dass alte Leitbilder oder Claims mit dem Label Purpose überklebt wurden. Bei den Mitarbeitern kam das genauso wenig an wie bei Kunden oder Geschäftspartnern. Sinn verfehlt, könnte man sagen.
Die Purpose-Debatte in Deutschland muss sich deshalb verändern. Weg von wachsweichen Sprüchen, hin zum konkreten Handeln. Ein erster Schritt könnte eine Selbstverpflichtung der 30, beziehungsweise bald wohl 40 Dax-Unternehmen nach dem Vorbild des amerikanischen Business Roundtable sein.
Wenn hier konkrete Ziele stehen, wie man Mitarbeiter, Umwelt und Geschäftspartner künftig mehr berücksichtigen möchte, dürfte das weitaus handfester sein als die oft denglischen Sinnsprüche. Etwa Sätze wie „First move the world“ (Mercedes), „We create chemistry“ (BASF) oder „Wir sind dazu da, Wirtschaftswachstum und Fortschritt zu ermöglichen, Vorhaben und Wünsche zu verwirklichen“ (Deutsche Bank).
Wer ums Überleben kämpft, hat keine Zeit für Purpose-Workshops
Klar ist: Wer wegen Corona in Existenznöte geraten ist, der hat Besseres zu tun, als sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Einen Purpose muss man sich leisten können. Nichts würde seltsamer wirken, als wenn sich Manager von Continental, Lufthansa oder Tui in Purpose-Workshops einschlössen, statt ihre Unternehmen zurück auf Kurs zu bringen.
Die Finanzkrise hat die Legitimationsprobleme des Shareholder-Kapitalismus weit offengelegt. Die Coronakrise dürfte wiederum zeigen: Wer an der Gesellschaft vorbei wirtschaftet, ist nicht länger relevant, beziehungsweise systemrelevant.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.