Kommentar: Die Schuldenbremse muss gerettet werden

Die Schuldenuhr am Gebäude des Bundes der Steuerzahler mahnt die Politik zur Sparsamkeit.
Es gibt nicht allzu viele Erfolge in der Pandemie, für die der deutsche Staat sich feiern lassen kann. Einer davon ist die Finanzpolitik: Mit rund einer halben Billion Euro an Corona-bedingt aufgenommenen Schulden federt der Staat den Konjunktureinbruch in der Pandemie ab.
Das war auch deshalb möglich, weil der Bund in den vergangenen zehn Jahren vernünftig gewirtschaftet hat. Der aus der Finanzkrise von 2009 geerbte Schuldenstand von rund 80 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung wurde wieder unter jene 60 Prozent zurückgeführt, die mit den Kriterien des europäischen Stabilitätspakts kompatibel sind.
Und zwar nicht wie gern kolportiert, indem man den Staat „kaputtgespart“ hat. Sondern indem die üppigen Steuereinnahmen jener Jahre zumindest zum Teil für den Schuldenabbau eingesetzt wurden. Dass der Bund in jenen Jahren zu viel für den staatlichen Konsum und zu wenig für Zukunftsinvestitionen ausgegeben hat, lag nicht am Geldmangel, sondern an politischen Prioritäten. Die Mütterrente war der Großen Koalition eben wichtiger als der Breitbandausbau.
Immerhin: Dank der soliden Haushaltspolitik der vergangenen Dekade zweifelt niemand daran, dass die Bundesrepublik die zusätzlichen Corona-Schulden tragen und zurückzahlen kann.
Möglich gemacht hat diesen Erfolg die Schuldenbremse. Jener seit 2011 geltende Grundgesetzartikel, dem zufolge der Bund über den Konjunkturzyklus hinweg nur 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung an frischen Schulden aufnehmen darf. Im Krisenfall kann der Bundestag diese Schuldenbremse aussetzen, was in der Pandemie auch geschehen ist. Das Gesetz erzwingt Disziplin in normalen Jahren und schafft gerade dadurch Flexibilität in Notlagen.
Doch kaum jemand feiert derzeit dieses kluge Gesetz. Im Gegenteil: Im linken Teil des politischen Spektrums, in Teilen der Union und auch im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften ist die Schuldenbremse in Verruf geraten. Sie gilt als Ausdruck eines ewig gestrigen Ordoliberalismus, der die Zeichen der neuen Zeit nicht begreifen mag: dass sich nämlich Staaten nahezu unbegrenzt zum Nulltarif verschulden können und es dumm wäre, dieses Gratiskapital nicht für wachstumsfördernde Investitionen zu nutzen.
Kritiker verweisen auf den Finanzbedarf durch den Klimaschutz
Neuen Schwung erhielten diese Forderungen in der vergangenen Woche mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die Bundesregierung ihr Klimaschutzgesetz deutlich nachbessern und verschärfen muss. Wie soll der Staat die nun anstehenden Investitionen in eine klimaneutrale Wirtschaft schultern, wenn nicht mit zusätzlichen Schulden? Von dieser Frage ist es dann nur ein kleiner rhetorischer Schritt zu dem Vorwurf: Wer jetzt noch die Schuldenbremse verteidigt, dem ist der Klimawandel egal.
Dieser vermeintliche Gegensatz ist zu einem hohen Grad interessengeleitet. Es ist für Politiker schlicht verlockend, die Schuldenbremse abzuräumen und endlich wieder Geld ausgeben zu können – vielleicht für den Klimaschutz, vielleicht aber auch für die Umgehungsstraße, die man dem eigenen Wahlkreis schon lange versprochen hat. 2020 hat der Bund jedenfalls keinen einzigen Kilometer Bahnstrecke fertiggestellt, dafür aber 125 Kilometer neue Autobahnen und Bundesstraßen.
Auch für viele Unternehmen ist ein Staat attraktiv, der Geld ausgibt: Man kann auf öffentliche Aufträge hoffen und darauf, dass die mühsame CO2-Reduktion mit Subventionen versüßt wird. Gegen diese ganz große Koalition der Spendierfreudigen haben es jene schwer, die die Schuldenbremse mit drei simplen Argumenten verteidigen.
Erstens: Das Gesetz lässt schon heute deutlich mehr finanzielle Flexibilität zu, als seine Gegner kolportieren. So fordert die Schuldenbremse lediglich, dass die in einer Notlage aufgelaufenen Schulden innerhalb eines „angemessenen Zeitraums“ zurückgeführt werden müssen. Für die Corona-Schulden hat der Bundestag diesen Zeitraum auf 20 Jahre festgelegt. Das ist tatsächlich ziemlich ambitioniert. Es spricht viel dafür, diesen Zeitraum zum Bespiel auf 40 Jahre auszudehnen, wie es etwa das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft vorschlägt.
Der Staat muss Anreize schaffen, statt Schulden machen
Zweitens: Es wäre fahrlässig anzunehmen, dass die derzeitige Kombination aus Nullzinsen und Kapital im Überfluss ewig anhält. Gerade weil sich derzeit so viele Akteure an den Finanzmärkten einig sind, dass die alten Regeln der Staatsfinanzierung nicht mehr gelten, ist Vorsicht geboten. Solche vermeintlichen kollektiven Gewissheiten haben bislang noch jede Finanzkrise ausgelöst.
Drittens: Der Klimaschutz erfordert in der Tat gewaltige Investitionen in neue Kraftwerke, CO2-neutrale Produktionsverfahren und sparsamere Heizungen. Doch das ist zunächst einmal die Aufgabe der Unternehmen und Haushalte, die einen Großteil der Klimagase in Deutschland verursachen. Der Staat sollte sich darauf beschränken, einen verlässlichen und gern auch ambitionierten Pfad zur CO2-Reduktion vorzugeben. Wenn nötig, sollte er Anreize schaffen, damit das reichlich vorhandene private Kapital in die ebenfalls privaten Klimaschutzinvestitionen fließt.





Warum dazu mehr öffentliche Schulden nötig sein sollen, als das Grundgesetz derzeit erlaubt, bleibt rätselhaft.
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