Kommentar: Die Vereinten Nationen wirken wie aus der Zeit gefallen


Die Bundesregierung bemüht sich unverdrossen um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Es gibt gleich eine Vielzahl von Gründen, warum die Generalversammlung der Vereinten Nationen in diesem Jahr besondere Aufmerksamkeit verdient: Da ist der nicht enden wollende Ukrainekrieg, der nicht nur den Westen, sondern auch die Weltgemeinschaft vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellt.
Da ist der eskalierende Konflikt zwischen den beiden Systemkonkurrenten China und USA, der den multilateralen Ansatz der New Yorker Institution zunehmend ad absurdum führt. Und da ist zuletzt die zumindest hierzulande bedeutsame Tatsache, dass Deutschland in diesem Jahr das 50. Jubiläum seiner Uno-Mitgliedschaft begeht, weshalb die Bundesregierung gleich in Mannschaftsstärke anrückt.
Doch all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass jene Institution, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um den Weltfrieden zu wahren, und damit wichtiger denn je scheint, sich in einer tiefen Krise befindet. Sie und vor allem der für den Weltfrieden verantwortliche Sicherheitsrat wirken heute wie ein Anachronismus.
Das liegt einerseits an den USA. Denn nicht erst mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 war die westliche Führungsmacht nicht mehr bereit, als Garant der regelbasierten Weltordnung zu agieren. Aus Sicht vieler Länder – und längst nicht nur der großen autokratischen Gegenspieler Russland und China – haben die USA schon mit fragwürdigen Interventionen wie in Afghanistan oder Irak als auch ihrer mitunter rücksichtslosen America-first-Politik ihre Legitimation verwirkt.
Hinzu kommt ein Europa, das immerhin zwei der fünf Vetomächte im Sicherheitsrat stellt, aber geopolitisch inzwischen als zu vernachlässigende Größe gelten muss. Die Tatsache, dass mit Deutschland eine weitere europäische Mittelmacht das Vetoprivileg für sich fordert und dass die Europäische Union aus nationalstaatlichem Egoismus nicht in der Lage ist, sich auf einen gemeinsamen Sitz zu verständigen, macht die Sache nicht besser.
Die neue Weltordnung ist keinesfalls unipolar
Zudem der „globale Süden“ ja mit gutem Recht mehr Einfluss auf die Institution für sich reklamiert – und die Uno als Ganzes als ein Instrument des Westens zur Verbreitung seiner Werte wahrnimmt.
Eine multilaterale Institution erzeugt Legitimation und Autorität durch Repräsentation und die Macht, seine Beschlüsse durchzusetzen. Beides ist seit Langem nicht mehr gegeben. Die Krise der Uno ist am Ende Folge einer neuen Weltordnung, die manche etwas alarmistisch „Weltunordnung“ nennen.
Etwas nüchterner formuliert: Die neue Weltordnung ist keinesfalls unipolar, wie mancher Denker wie Francis Fukuyama („Das Ende der Geschichte“) es zeitweise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für möglich hielt. Sie ist auch nicht bipolar, wie es bisweilen zu Zeiten des Kalten Kriegs der Fall war und jetzt mit dem epochalen Kampf Chinas und der USA um die Weltherrschaft wieder möglich erscheint.

Die neue Weltordnung ist nicht bipolar, meint Handelsblatt Autor Jens Münchrath.
Nein, wir leben in einer zunehmend multipolaren Welt. Die Uno wird dem – will sie sich nicht marginalisieren – Rechnung tragen müssen. Nichts spiegelt diese neue Lage besser wider als das Scheitern der Weltgemeinschaft, den für europäische Verhältnisse archaisch anmutenden Landkrieg in der Ukraine einzufrieren, geschweige denn zu befrieden.
Es ist ein Krieg, der am Ende nicht nur über die Sicherheitsarchitektur Europas entscheidet. Es geht auch um das künftige Verhältnis zwischen den Nuklearmächten USA, China und Russland. Es geht um die Frage, ob die Weltgemeinschaft eine Weltordnung zu tolerieren bereit ist, in der eine ebenso revisionistische wie imperialistische Macht mit militärischen Mitteln völkerrechtswidrig Fakten schafft – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Denn setzt Putin sich in der Ukraine durch, wird er sich nicht nur in seinem expansionistischen Drang bestärkt fühlen, sondern er setzt auch Anreize für andere Regime, es ihm gleichzutun, weshalb die etwas pathetisch anmutende Behauptung, die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpften auch für unsere Freiheit, nicht übertrieben ist.
>> Lesen Sie hier: Alle Entwicklungen im Ukraine-Krieg in unserem Newsblog
Am Ende geht es auch um die Freiheit von Indern, Brasilianern und Indonesiern. Auch sie haben am Ende ein vitales Interesse daran, dass es eine durchsetzungsstarke multilaterale Institution gibt, die sich für die territoriale Integrität der Staaten einsetzt.
Natürlich wird es in New York am Ende nicht nur um Überzeugungsarbeit des Westens für eine regelbasierte Weltordnung gehen, sondern auch um konkrete Waffenlieferungen – nach Kampfpanzern und -flugzeugen stehen nun bodengestützte Raketen längerer Reichweite zur Debatte.
Die USA und Europa sehen sich in der Zwangslage, einen Abnutzungskrieg mit immer neuen Waffenlieferungen unterhalten zu müssen – nicht, weil sie es wollen, sondern, weil es keine Alternative gibt, die politisch vernünftig oder moralisch erträglich wäre. Die Zeit jedenfalls spielt für Putin: Die US-Wahlen 2024 könnten das US-Engagement abrupt beenden, auch in Europa gibt es zunehmend Debatten, ob dieser Krieg für die Ukrainer überhaupt zu gewinnen ist.

Die USA und Europa sehen sich in der Zwangslage, einen Abnutzungskrieg mit immer neuen Waffenlieferungen unterhalten zu müssen, meint Jens Münchrath.
Noch herrscht in den Regierungsetagen die Überzeugung vor, dass die Konsequenzen des Unterlassens gravierender sein könnten als eine Politik der sukzessiven Grenzüberschreitungen bei den Waffenlieferungen, dass westliche Waffen und Munition mögliche Verhandlungen nicht verhindern, sondern die Voraussetzung dafür schaffen. Aber wie lange noch?



Selten waren Europa und die USA so auf die Unterstützung des globalen Südens angewiesen bei der Durchsetzung des Völkerrechts gegenüber einem zunehmend imperialistisch agierenden Russland wie jetzt. Überzeugend wird der Westen nur sein können, wenn es ihm gelingt, seine Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Wenn er begreiflich macht, dass westliche Werte mehr sind als nur ein Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen. Ein Anfang könnte der Versuch sein, den Weg für Reformen der Uno freizumachen. Einer Uno, die den multipolaren Realitäten gerecht wird.
Mehr: Das sind die deutschen Chancen auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.





