Kommentar Die Wahl ist vorbei, jetzt ist es Zeit für Zumutungen
Dieser Wahlkampf war ein Wahlkampf der Nebensächlichkeiten. Und er war, mit all den Debatten um Lebensläufe und Stilfragen, auch eine Zumutung – angesichts der ökologischen und ökonomischen Probleme, die dieses Land hat.
Zwar ließ das politische Spitzenpersonal „Aufbruch“ und „Modernisierungsjahrzehnt“ auf Plakate drucken. Doch das Wahlergebnis zeigt: Es gibt keine Partei, der die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler diesen Aufbruch wirklich zutraut. Selbst die Siegerin SPD kommt nur auf etwas mehr als ein Viertel der Stimmen.
Viele Menschen spüren, dass Deutschland gleich vor mehreren historischen Zäsuren steht. Die Antwort auf den Klimawandel wird den größten Umbau der Wirtschaft seit der Industrialisierung erfordern.
Gleichzeitig geraten viele Unternehmen zwischen die Fronten des Konflikts der Hightech-Supermächte USA und China. Und schließlich schlägt sehr bald der Alterungsschub auf die Sozialversicherungen durch – und damit auf das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft.
Die nächste Bundesregierung darf sich nicht mehr darauf beschränken, diesen Wandel nur beobachtend geschehen zu lassen, so wie es die scheidende Kanzlerin Angela Merkel tat.
Derzeit erlebt das Land auch eine Zäsur im politischen System, indem eine Bundesregierung wohl erstmals seit der Ära Adenauer aus einer Dreiparteienkoalition bestehen wird. Mit FDP und Grünen haben die Wähler einerseits Spezialisten für die Modernisierung der Wirtschaft gestärkt, andererseits für den grünen Umbau der Industrie.
Zu den bemerkenswerten Nachrichten des Wahlabends zählt, dass nun zunächst Grüne und FDP über eine Zusammenarbeit sprechen wollen. Gut möglich, dass den beiden kleineren Partnern gelingt, was weder Olaf Scholz noch Armin Laschet im Wahlkampf schafften: ein übergreifendes Projekt für die nächste Bundesregierung zu formulieren, eine gemeinsame Modernisierungserzählung.
Die Unternehmen sind hier längst weiter als die Politik: Industriekonzerne investieren in Windparks vor den Küsten, um sich eine CO2-freie Energiequelle zu sichern. Stahlkocher planen den Umbau ihrer Hochöfen auf Wasserstoffbetrieb. Selbst Autoherstellern, die lange auf den Elektropionier Tesla herabblickten, kann es mit dem Umstieg auf E-Mobilität gar nicht schnell genug gehen.
Doch die Unternehmen und ihre Beschäftigten brauchen nun konkrete politische Antworten auf existenzielle Fragen: Wie kann der Bau von Stromtrassen und Windparks beschleunigt werden? Wie sollen europäische Unternehmen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben, wenn ihre Produkte künftig klimaneutral hergestellt werden – und dadurch deutlich teurer sind als die ihrer Wettbewerber aus China und Indien?
Die neue Bundesregierung muss Antworten auf diese Fragen finden und sie in eine dazu passende industriepolitische Strategie einbetten.
Lesen Sie mehr zur Bundestagswahl:
- „Kernschmelze für die CDU“ – Das sind die vier Lehren aus der Wahl
- Laschet will ins Kanzleramt fliehen – doch ihm schwindet die Macht dazu
- Der geviertelte Kanzler: Volksparteien erreichen nur ein Viertel der Wählerschaft
- So haben Wähler in den Wahlkreisen prominenter Politiker entschieden
Dabei geht es um mehr als nur um den grünen Umbau. Durch hohe Unternehmensteuern sowie die jährlich wachsende Zahl oft unsinniger Regeln und bürokratischer Hürden fällt der Standort Deutschland zurück. Beim Ausbau der digitalen Infrastruktur hat das Land der Weltmarktführer gute Aussichten auf den Weltmeistertitel im Schneckenrennen. Diese Schwächen wurden durch den außergewöhnlichen Exporterfolg der Unternehmen in der zurückliegenden Dekade lediglich überdeckt.
Wer immer in Zukunft regiert, wird um Zumutungen an die eigene Wählerschaft nicht herumkommen. Die Grünen werden Naturschützern klarmachen müssen, dass sie nicht jedes neue Windrad unter Verweis auf irgendeine bedrohte Unken-Spezies jahrelang ausbremsen können.
Die FDP wird ihrer Klientel zu erklären haben, wie sie die versprochenen Steuersenkungen mit den notwendigen öffentlichen Investitionen in Einklang bringen will. Und die Nicht-mehr-so-ganz-Volksparteien SPD und Union sollten erläutern, dass eine CO2-Bepreisung zwangsläufig dazu führt, dass Tanken teurer wird – ebenso das Nackensteak und der Mallorca-Flug.
Diese Eingeständnisse werden sich nur vermitteln lassen, wenn sie mit einem glaubhaften Versprechen für eine bessere, nachhaltigere wirtschaftliche Zukunft einhergehen. Ebenso wie mit einer nachhaltigen Neudefinition dessen, was soziale Sicherheit und gutes Leben in Zukunft bedeuten sollen.
Gerade in Zeiten des beschleunigten Wandels und damit verbundener Dystopien gilt ein Satz des Philosophen Karl Popper: „Es ist unsere Pflicht, Optimist zu sein.“ In diesem Sinne: Deutschland braucht jetzt eine Koalition des Zumutungsoptimismus.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
Sehr geehrter Herr Matthes, ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Aber vielleicht gibt der Artikel Ihrer Kollegin Lisa Oenning Aufschluss, warum der Wahlkampf so gelaufen ist, wie er ist. Sie beschreibt, dass Umfrage Auswertungen ergeben haben, dass potentielle Grün Wähler doch noch abgesprungen sind, weil sie Nachteile für sich, berechtigt oder nicht, erwartet haben. Wir fordern als Wähler so oft, liebe Politiker macht euch ehrlich aber ehrlich gesagt, dass funktioniert erst, wenn wir Wähler uns ehrlich machen und nicht umgekehrt.