Kommentar: Es ist falsch, sich auf eine Sieben-Tage-Inzidenz zu versteifen

Die von der Politik gewählten Grenzwerte in der Pandemie sind problematisch – auch wegen der Abhängigkeit von der Teststrategie.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Kampf gegen die Pandemie auf einen Zielwert verdichtet. Es geht um die Zahl 50, genauer gesagt: um 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen sieben Tage. Diese Kennzahl ist für die Politik seit einigen Monaten der unverrückbare Maßstab für Erfolg oder Misserfolg bei der Eindämmung der Corona-Pandemie.
„Wir müssen auf die 50 kommen“, sagte Merkel am Montag nach den jüngsten Bund-Länder-Beratungen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sprach von der „Mutter aller Zahlen“. Am Mittwoch soll der Bundestag diesen Grenzwert im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz festschreiben.
Dann bekommt der politische Wert eine rechtliche Grundlage, auf der Maßnahmen bis hin zum Eingriff in die Grundrechte erlassen werden können.
Nicht nur ist es falsch, sich bei der Bewertung der Pandemielage auf einen einzigen Messwert zu versteifen. Auch die Kür der Sieben-Tage-Inzidenz zur magischen Zahl ist äußerst problematisch.
Das sehen Fachleute ebenso: Die Inzidenz und die von der Politik festgelegten Grenzwerte seien ungeeignet, weil sie „weder epidemiologisch noch durch allgemeine Logik den Bezug zu Maßnahmen rechtfertigen“, sagte Professor Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung bei der Anhörung im Bundestag zum Bevölkerungsschutzgesetz.
Bundesweite Demarkationslinie
Die 50er-Hürde geht auf eine Absprache Merkels und der Ministerpräsidenten Anfang Mai zurück, damals wurde über das Ausmaß der Lockerungen diskutiert. Die Idee: Wenn aus Landkreisen oder kreisfreien Städten mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gemeldet werden, sollte es wieder regional begrenzte Einschränkungen geben. Mittlerweile ist die Zahl die bundesweite Demarkationslinie zwischen Lockdown und Lockerung.
Merkel argumentiert: Der Grenzwert bilde ab, ab welcher Schwelle Gesundheitsämter Kontakte von Infizierten womöglich nicht mehr nachverfolgen und so das Infektionsgeschehen nicht mehr in Schach halten können. Dafür fehlt aber die klare wissenschaftliche Evidenz.
Und fraglich ist auch, ob bei den Kapazitätsannahmen beispielsweise das ländliche Nordfriesland mit dem Ballungszentrum Ruhrgebiet gleichgesetzt werden kann.



Außerdem hängen die statistisch erfassten Infektionszahlen von bestimmten Rahmenbedingungen ab, etwa Umfang und Schwerpunkt bei den Testungen. Die unterschiedlichen Risiken für schwere Verläufe werden ebenfalls vernachlässigt. Söder sagte, er habe „wenig Hoffnung, dass Ende November wieder alles gut ist“.
Er dürfte recht behalten – wenn er den 50er-Wert bei den Fallmeldungen zugrunde legt.
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