Kommentar Fünf Jahre nach dem Brexit-Votum: Vorteile des EU-Austritts sind immer noch nicht erkennbar

Fünf Jahre nach dem Erfolg seiner Kampagne muss der britische Premier den Brexit umsetzen.
Heute vor fünf Jahren erwachte Europa zu einem politischen Erdbeben. Die Briten hatten für den Austritt aus der EU gestimmt, und viele Europäer überkam an jenem Morgen das Gefühl, einer Katastrophe beizuwohnen.
Inzwischen ist klar, dass die schlimmsten Ängste übertrieben waren. Doch ist der Brexit noch lange nicht „geschafft“ – egal, wie oft der britische Premierminister Boris Johnson das Gegenteil behauptet.
Sechs Monate nachdem Großbritannien den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat, gelten in vielen Bereichen noch Übergangsregelungen. Der Brexit ist ein „work in progress“, nicht nur in Nordirland. Auch der Finanzsektor wartet noch auf einen neuen Marktzugang.
Die ökonomischen Kosten der Abnabelung vom wichtigsten Handelspartner treten erst allmählich zutage. Britische Firmen exportieren insgesamt weniger, ganze Geschäftsmodelle sind aufgrund der neuen Hürden nicht mehr profitabel. Eine Bilanz lässt sich aber erst nach dem Ende des Corona-Ausnahmezustands ziehen.
Die Vorteile des Brexits sind noch nicht erkennbar, sieht man einmal vom gesparten EU-Mitgliedsbeitrag ab. Der erste unabhängige Handelsdeal, das gerade verkündete Abkommen mit Australien, geht vor allem auf Kosten der britischen Bauern. Alle weiteren Versprechen der Brexit-Regierung sind bisher nur Ankündigungen.
Es ist daher nicht überraschend, dass die Briten auch fünf Jahre nach ihrem Votum noch keinen Konsens zum Brexit erreicht haben. Würde heute noch einmal über den EU-Ausstieg abgestimmt, wäre laut Umfragen wieder die eine Hälfte dafür und die andere Hälfte dagegen.
Neuer Zusammenhalt in der EU durch Brexit
Langfristig könnten die politischen Kosten des Brexits folgenreicher sein als die ökonomischen. Schottland drängt auf die Unabhängigkeit, in Nordirland wird über ein vereintes Irland diskutiert. Ob das Königreich in der derzeitigen Form überdauern wird, ist ungewiss. Das verstärkt die defensive Haltung der britischen Regierung gegenüber der EU, wenn es um die Grenzkontrollen in Nordirland geht.
In der EU hingegen hat der Brexit einen neuen Zusammenhalt hervorgebracht. Nichts schweißt mehr zusammen als ein gemeinsamer Gegner. Die Angst, dass andere Länder dem britischen Beispiel folgen könnten, hat sich vorerst gelegt.
Allerdings sollten Brüssel und London alles tun, um ihre gestörte Beziehung zu reparieren. Johnsons Trotzhaltung gegenüber der EU ist ebenso irrational wie die Empörungsrituale in Brüssel. Diesen Antagonismus können sich beide Seiten auf Dauer nicht leisten, dafür sind die gemeinsamen Interessen zu groß.
Mehr: Die EU will Großbritannien im Nordirlandstreit notfalls mit einem Handelskrieg auf Linie bringen.
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