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KommentarIm Zweifel muss die Priorität auf dem Schutz des Lebens der Schwächsten liegen

Wenn das Wichtigste aller Grundrechte, das Recht auf Leben, bei einer Minderheit durch das Verhalten der Mehrheit gefährdet ist, dann ist eine Einschränkung der Freiheit geboten.Jens Münchrath 01.04.2020 - 16:58 Uhr

Die Krankenhäuser in Deutschland richten sich auf viele Intensivpatienten ein.

Foto: obs

Seien wir ehrlich: Wer möchte in diesen Tagen in der Rolle eines verantwortlichen Politikers sein? Journalisten können vieles fordern – Worte sind billig. Epidemiologen können wissenschaftsbasierte Ratschläge erteilen – zu verantworten haben sie die daraus scheinbar zwangsläufig resultierenden Handlungen nicht.

Das Gleiche gilt für Ökonomen, die tagaus, tagein vor den verheerenden Folgen eines länger anhaltenden Shutdowns warnen. Und es gilt für Manager und Unternehmer, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangen und zunehmend vernehmbarer das Ende des staatlich verordneten Wachkomas fordern.

Doch zu entscheiden haben am Ende die gewählten Politiker – das ist gut so, aber es ist alles andere als einfach. Denn die Corona-infizierten Gesellschaften sind derzeit der unerbittlichen Macht des Exponentiellen ausgeliefert, die Zivilisation als Ganzes erfährt ihre eigene Zerbrechlichkeit – in einer Form, wie es vor ein paar Monaten nicht vorstellbar schien. 

Es geht um Grundsatzfragen: Wie viel Schaden kann ein Gemeinwesen hinnehmen, um Menschen, meistens sind es die schwächsten, vor dem Tod zu bewahren? Wie weit dürfen freiheitliche und für die Demokratie essenzielle Grundrechte aller eingeschränkt werden, um wenige zu schützen?

Wer vorgibt zu wissen, was die richtige Antwort ist, ist ein Absolutist. Deshalb tastet auch die Politik sich vor, die Kanzlerin nennt das in ihrer unprätentiösen Art „auf Sicht fahren“. Und es ist ja wahr: Selten war der Kontrast zwischen Unwissenheit einerseits und dem Ausmaß der Folgen politischer Handlungen andererseits größer als jetzt. Selten war die Abwägung der Zielkonflikte schwieriger.

So beruhigend es ist, dass Angela Merkel im Gegensatz zu Donald Trump eine wissenschaftsbasierte Politik betreibt, so beunruhigend ist die Vorstellung, Epidemiologen würden die Richtlinien der Politik bestimmen. 

Auch Wissenschaftler irren. Mehr noch: Das Bewusstsein ihrer Fehlbarkeit ist ihre eigentliche Stärke, am Ende sogar die Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt. Und selbst wenn die Forscher gesicherte Erkenntnisse hätten, wovon sie weit entfernt sind, wäre eine Absolutsetzung ihrer Positionen nicht der richtige Weg.

Priorität auf dem Schutz des Lebens

Um eine Debatte über die Zielkonflikte im Spannungsfeld zwischen humaner Gesinnung und ökonomischer Vernunft, zwischen exponentiell ansteigenden Infektionsraten und zeitweise eingeschränkten Grundrechten kommen wir nicht herum. Und sie findet ja auch längst statt.

Aber auch das ist wahr: Im Zweifel die Priorität erst mal auf den Schutz des Lebens der Schwächsten zu setzen, wie die Politik es derzeit konsequent macht, ist sicherlich nicht die schlechteste, weil die menschlichste Maxime. Denn wenn das Wichtigste aller Grundrechte, das Recht auf Leben, bei einer Minderheit durch das Verhalten der Mehrheit gefährdet ist, dann ist eine zumindest vorübergehende Einschränkung der Freiheit dieser Mehrheit nicht nur legitim, sie ist geboten.

Trotzdem gibt es unterhalb dieser Prämisse mögliche Nuancen, was die Strategie im Kampf gegen Corona angeht. Es ist durchaus legitim, darüber nachzudenken, die Einschränkungen gegebenenfalls etwas abzuschwächen, vorausgesetzt, die Kapazitäten für die medizinische Intensivbetreuung sind da. Denn langfristig gilt: Verhindern wir die Verbreitung des Virus mit allen Mitteln, werden zwar weniger Menschen krank, aber auch weniger immun. Das ist das Grunddilemma der Krisenstrategen.

Wichtig ist eine offene Debatte darüber, mit welchen Mitteln wir welche Ziele erreichen wollen. Voraussetzung dafür wiederum ist die Transparenz, vor allem auch, was die Datenbasis angeht. Testen, testen, testen – sowohl was die Infektionen als auch die Bildung von Antikörpern angeht –, das ist jetzt entscheidend. Auch der vorübergehende Einsatz des Mobile Trackings, mit dem Südkorea so große Erfolge erzielte, ist begrüßenswert.

Es geht um viele Menschenleben

Dass wir dem Staat ausgerechnet jetzt misstrauen, gleichzeitig den amerikanischen Internetgiganten immer schon alle Daten leichtfertig zur Verfügung stellen: Wer will das verstehen? Es handelt sich hier nicht um einen Probelauf des autoritären Staats, wie manche glauben. Es geht um eine Gesundheits-, eine Wirtschafts- und eine Staatskrise. Und es geht um viele Menschenleben.

Corona führt uns gerade vor Augen, dass es eine Macht geben kann, die größer ist als Wirtschaftsinteressen, größer als das Finanzkapital und auch größer als gewählte Regierungen und Autokraten.

Vieles muss derzeit dem Kampf gegen diese Macht untergeordnet werden. Das ist gerade für Demokratien ein schmerzhafter Prozess – nicht zuletzt auch deshalb, weil man die Wirtschaft nicht komplett stilllegen kann, ohne die bestehende Wirtschaftsordnung zu gefährden.

Will die Politik das Vertrauen der Menschen in diesem Prozess nicht verlieren, muss sie mehr leisten, als nur eine offene Debatte zuzulassen und zu führen. Sie muss eine Strategie präsentieren, die den Schutz der Gesundheit der Menschen garantiert, ohne die ökonomischen Grundlagen unseres Wohlstands langfristig zu gefährden.

Das ist alles andere als trivial – schon die astronomisch anmutenden Stützungsaktivitäten der Bundesregierung verdeutlichen den Ernst der Lage. Unmöglich ist es nicht. Eines aber darf man nicht vergessen: Dass Politiker weltweit Freiheitsrechte einschränken, dabei den kurzfristigen Absturz ihrer Volkswirtschaften in Kauf nehmen, um die Gesundheit der Schwächsten ihrer Gesellschaften zu schützen – es ist die humanitäre Konsequenz eines der größten zivilisatorischen Fortschritte unserer Geschichte: Das Leben jedes Einzelnen zählt.

Mehr: Derzeit herrscht eine kollektive Lähmung, aus der die Gesellschaft bald herauskommen muss. Sonst verlieren wir nicht nur unseren Wohlstand, sondern auch die Lust am Leben.

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