Kommentar Inkompetente Krankenkassen gefährden Digitalisierung im Gesundheitswesen
Meine Mutter lebte eineinhalb Jahre länger, als die Ärzte ihr im Oktober 2017 gegeben hatten. Das Medikament Bevacizumab hielt den bösartigen Tumor, der sich inoperabel in ihrem Gehirn eingenistet hatte, lange auf. Medizinisch gesehen ein Erfolg. Wir hatten mehr Zeit zusammen.
Pharma kann viel. In Zukunft will die Branche für sich beanspruchen, mit Künstlicher Intelligenz (KI) und dem Teilen von Daten Krankheiten früher zu erkennen und gezielter gegensteuern zu können. Algorithmen können die Medizin besser machen. Das Geschäft mit KI-Systemen in der Gesundheitsversorgung ist riesig: Auf sechs Milliarden US-Dollar schätzt eine US-Beratung das Marktvolumen im Jahr 2022.
Es ist klar, wohin die Reise in den 2020ern geht. „Wenn es uns gelingt, die Daten gut zu nutzen, wird die Medizin einen großen Sprung nach vorne machen“, sagte Severin Schwan, Vorstandschef des Pharmakonzerns Roche, im vergangenen Jahr. Ja, wenn!
Mal abgesehen von den Unternehmen, die weit sein mögen. Unser Land ist es nicht. Das Digital-Dorf Deutschland mit seinem durchbürokratisierten, Fax-betriebenem Gesundheitssystem braucht eine „Einführungsvorlesung I: Wie benutze ich einen Computer?“.
Ende 2018 landete Deutschland in einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die den Fortschritt von 17 Ländern im Bereich E-Health untersuchte, auf dem vorletzten Platz. Eine digitale Patientenakte gibt es noch immer nicht.
Deutschland muss seine digitale Kleinkunst ausbauen – und vorher klären, auf welchem humanistischen Fundament das eigentlich geschieht. Es bleiben schließlich die Menschen, die auf die Zweifel der Patienten antworten und ihre Todesängste gemeinsam mit ihnen verarbeiten.
KI darf nicht die Menschen treiben. Sie müssen die KI entwickeln und klug anwenden. Diskussionswürdige Fragen gibt es genug: Wollen wir uns Organe züchten? Wollen wir kaum vorhandene Wirkstoffe, die kleinen Kindern sofortige Heilung versprechen, in einer Lotterie verlosen? Wie beim „Bachelor“: Heute habe ich leider keine Infusion für dich?
Krankenkassen wollen oder können nicht
Das Digitale-Versorgung-Gesetz der Bundesregierung ist die Grundlage für Apps auf Rezept, individualisierte Medizin und technologische Innovationen. KI kann Probleme und Zusammenhänge schneller erkennen als einige Ärzte. Den Pharmafirmen hilft es, wenn deren Produkte gezielter wirken: Und dem Gesundheitssystem nutzt es, wenn die ohnehin teuren Behandlungen besser wirken.
Das ist gut für die Patienten. Theoretisch. Aber es muss schon das gesamte System mitmachen. Die Krankenkassen wollen oder können das nicht. Eine Studie der Beratungsgesellschaft Deloitte von 2019 kommt zu dem Schluss, dass die Position der Krankenkassen und ihrer Verbände hinsichtlich der Digitalisierung kaum definiert ist. Ohne eine klarere Ausrichtung drohe ein Einflussverlust „auf die künftige Ausgestaltung des Gesundheitswesens in Deutschland“.
Eine Befragung des Fraunhofer-Zentrums für internationales Management und Wissensökonomie über die Lage in privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen zeigte 2018: Eines der drei internen Kernprobleme der Kassen ist die mangelnde digitale Kompetenz der Beschäftigten.
Als sich der Krebs meiner Mutter über Bevacizumab hinwegsetzte und erneut wuchs, wollten die Onkologen eine andere, in Deutschland nicht zugelassene Therapie ausprobieren. Mehr als 4000 Euro kostet eine Infusion, macht bei zwei Gaben pro Monat rund 100.000 Euro im Jahr. Wochen vergingen, dann lehnte die Krankenkasse das neue Medikament ab. Wir legten Widerspruch gegen die Entscheidung ein. Keine Reaktion.
Wenn ein Mensch stirbt, informiert das Beerdigungsinstitut auf Wunsch der Angehörigen staatliche Stellen und Versicherungen. Drei Wochen nach dem Tod meiner Mutter erhielt mein Vater einen Brief von der Krankenkasse. Ob er an dem Widerspruch festhalten wolle, stand da.
Sag mir, wo die Daten sind, wo sind sie geblieben? Irgendwo in der IT-Hölle des Instituts war die Information verloren gegangen. Wenn schon so simple Datensätze nicht korrekt verarbeitet werden, hängt die Digitalisierung im Gesundheitssektor an entscheidender Stelle fest.
Mehr: Oft vergleichen wir das kommende Jahrzehnt mit seinem Pendant vor 100 Jahren. Doch machen die Analogien wirklich Sinn? Zehn Kommentare blicken auf kommende Herausforderungen.
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