Kommentar Joe Bidens Infrastruktur-Paket ist ein Signal des Aufbruchs

Der US-Präsident kämpft derzeit mit vielen Krisen.
Es ist ein Zeichen des Zusammenhalts, der selten geworden ist in Washington: Der Senat, eine von zwei Kammern im US-Kongress, hat den Weg frei gemacht für die größte Infrastrukturreform seit mehr als 50 Jahren.
Zwar liegen noch viele Hürden auf dem Weg zu einem unterschriftsreifen Gesetz. Aber das 1,2 Billionen Dollar schwere Paket ist in Zusammenarbeit von Demokraten und republikanischer Opposition entstanden, allein das ist bemerkenswert.
Noch Anfang des Jahres wurde das Kapitol zum Mahnmal des Hasses, als Tausende Fanatiker das Gebäude stürmten. Jetzt sendet das politische Machtzentrum der USA endlich Signale des Aufbruchs.
Der Kongress, gespalten in extrem knappe Mehrheiten, scheint nicht komplett blockiert, wie es unter Donald Trump häufig der Fall war. Dank sachlicher Gespräche und dank eines zu Kompromissen fähigen Präsidenten ist Washington wieder handlungsfähig geworden.
Illusionen braucht man sich zwar keine zu machen, die politischen Gräben in den USA bleiben tief. Der Durchbruch beim Infrastrukturpaket dürfte für lange Zeit der einzige überparteiliche Vorstoß bleiben, auch wenn große Reformen bei der Einwanderung, der Gesundheit oder im Waffenrecht seit Jahrzehnten fällig sind.
Dass Demokraten und Republikaner im Fall der Infrastruktur kooperieren, ist purem Pragmatismus geschuldet: Wer erzählt seinen Wählern und Wählerinnen nicht gern, dass man eine ordentliche Summe für neue Highways, schnelleres Internet und Stromleitungen gesichert hat?
Die USA kommen nicht zur Ruhe
Und auch Biden braucht diesen Erfolg mehr denn je, denn der Präsident kämpft mit so vielen Krisen auf einmal, dass er zunehmend getrieben wirkt. Ins Amt kam er als Anti-Trump, er brachte ein erfahrenes Team mit und schien immer einen Schritt voraus.
Noch vor wenigen Wochen trat Biden selbstbewusst, beinahe euphorisch auf, alles schien zu laufen: der Aufschwung, das Impfprogramm, die Freundschaftstourneen durchs Ausland. Der Sieg über die Pandemie schien so nah, doch inzwischen sind auch die USA im zermürbenden Kampf gegen die Delta-Variante gefangen.
Das Land kommt nicht zur Ruhe: Auf der einen Seite kann Biden auf Wachstum und einen boomenden Jobmarkt verweisen, auf der anderen sorgen steigende Preise und Wohnungsnot für Unsicherheit. Corona wird wohl bis ins nächste Jahr den Alltag bestimmen, in dem ausgerechnet die wichtigen Kongresswahlen anstehen. Knappe Mehrheiten erschweren politische Manöver ohnehin, die neue Covid-Welle schränkt Bidens Spielraum noch mehr ein.
Auch außenpolitisch kann seine Regierung gerade wenig wettmachen. Der Vormarsch der Taliban in Afghanistan ist für die Menschen vor Ort eine Katastrophe und für Millionen Soldaten und Veteranen in den USA eine moralische Niederlage. Dazu zeigen die überfüllten Zelte an der Grenze zu Mexiko einmal mehr, dass die USA trotz allen Wohlstands, trotz aller Innovationskraft ihre Krisen nicht in den Griff bekommen.
Die Infrastruktur-Billion mag in der Last der bedrückenden Realitäten klein wirken, doch sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Nach eineinhalb Jahren Pandemie ist Biden seinem Ziel, den wirtschaftlichen Neustart zu gestalten, einen Schritt näher gekommen.
Allerdings ist offen, ob die Reform den legislativen Prozess überlebt. Denn linke Demokraten wollen ein zusätzliches Megapaket in Höhe von 3,5 Billionen Dollar durchdrücken: im Alleingang, ohne die Republikaner, ohne Abstriche. Nur dann wollen sie der Infrastrukturreform überhaupt zustimmen.
Die Spaltung der Demokraten war schon immer da, Trump kaschierte sie
Dafür notwendig sind geschlossene Reihen, doch das Gezerre um die Billionen lässt die Spaltung der Demokraten offen zutage treten. Zentristen lehnen das größere Paket inklusive Steuererhöhungen ab, die Linken wollen massive Investitionen in Klimaschutz, Bildung, Sozialreformen.
Die internen Brüche waren schon immer da, nur waren sie unter Trump weniger sichtbar. Der Widerstand gegen einen gemeinsamen Feind schweißte die Demokraten zusammen. Jetzt, wo es um echte Macht und echtes Geld geht, spielen die miteinander konkurrierenden Flügel ihren Einfluss aus.
Biden, der 78-jährige Demokrat, der den Aufstieg aus dem Arbeiterviertel schaffte, liegt dabei eher auf der Linie der Linken. Er verspricht Umverteilung, einen starken Staat und ein Sozialsystem, für das sich die reichste Industrienation der Welt nicht mehr schämen müsste.
Doch Biden ist nicht mehr im Wahlkampf, sondern Präsident im Oval Office. Er weiß, dass er seine Vision unter den aktuellen Umständen vielleicht nicht erreichen kann. Die Chancen sind groß, dass die riskante Doppelstrategie der Demokraten nicht aufgeht und sie am Ende mit leeren Händen dastehen.
Sollte Biden den Kampf um die zusätzlichen 3,5 Billionen trotzdem unterstützen? Auf jeden Fall. Es ist richtig, dass seine Partei versucht, alles auf eine Karte zu setzen. Schließlich hat die Pandemie entblößt, dass die amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft zu wenige Menschen trägt und zu viele fallen lässt. Eine Billion für Infrastruktur ist schlichtweg nicht genug, um die USA nachhaltig zu verändern.
Sollten sich die Demokraten jedoch nicht zusammenraufen, müssen sie rechtzeitig Größe zeigen – und sich mit dem Infrastrukturpaket zufriedengeben. Vergeben sie die Chance, überhaupt ein Paket zu verabschieden, können sie dieses Mal nicht die Schuld auf die Republikaner schieben. Dann wären die Demokraten selbst schuld daran, dass wieder einmal eine Reform in Washington scheitert.
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