Kommentar Johnson erlebt Umfragehoch – doch mit seiner Beliebtheit kann es schnell vorbei sein

Die meisten Briten bescheinigen dem Premier, einen guten Job zu machen.
Hundert Tage nach dem Brexit ist festzuhalten: Großbritannien ist nicht zusammengebrochen – allen düsteren Prognosen zum Trotz. Auch die Corona-Pandemie hat ein Jahr nach ihrem Ausbruch viel von ihrem Schrecken verloren. Der britische Premierminister Boris Johnson hat seine Position trotz des Doppelschocks konsolidiert und erlebt gerade ein Zwischenhoch.
Mehrere Kennziffern sind erstaunlich gut. Allen voran kann sich die Impfbilanz sehen lassen. Knapp die Hälfte der Briten hat eine erste Impfdosis erhalten. Von einer dritten Infektionswelle ist nichts zu spüren, stattdessen kann Johnson das Land schrittweise aus dem Lockdown führen. Am Montag dürfen Geschäfte und Biergärten wieder öffnen.
Dieser Erfolg spiegelt sich in den Umfragen. Johnsons Konservative liegen sieben Prozentpunkte vor der Labour-Opposition – und das nach elf Jahren an der Macht. Oppositionsführer Keir Starmer tut sich schwer. Die meisten Briten bescheinigen Johnson, dass er einen guten Job macht. Bei den Kommunalwahlen im Mai werden die Tories voraussichtlich einige Erfolge feiern können.
Auch die Wirtschaftsprognosen sind positiv. Der IWF erwartet, dass Großbritannien in diesem und im kommenden Jahr schneller wächst als die Euro-Zone und sogar die USA. Für 2021 wird ein Wachstum von 5,3 Prozent erwartet. Zum Vergleich: Die deutsche Wirtschaft soll nur um 3,6 Prozent wachsen. Ökonomen führen zwei Gründe an: Zum einen dürfte die Impfkampagne im Königreich dazu führen, dass der Aufschwung schneller kommt. Zum anderen war die britische Wirtschaftsleistung vergangenes Jahr besonders stark – um knapp zehn Prozent – eingebrochen, das Land hat daher mehr aufzuholen.
Der Premierminister kann daher im Moment vor Kraft kaum laufen. Selbst aus Schottland, wo den Tories bei der Regionalwahl im Mai eine Schlappe droht, gab es zuletzt positive Nachrichten: Die Unabhängigkeitsbewegung streitet mit sich selbst, der frühere SNP-Parteichef Alex Salmond hat eine Konkurrenzpartei gegründet und das Lager der Nationalisten gespalten.
Brexit: Handel mit Deutschland bricht ein
Doch kann sich Johnsons Glück schnell wieder wenden. Die Risiken sind unübersehbar. Eine dritte Corona-Welle könnte immer noch kommen, wenn die Öffnung von Geschäften und Gastronomie die Zahl der Kontakte wieder erhöht. Die Virologen wollen noch keine Entwarnung geben.
Auch der Brexit ist noch längst nicht abgehakt. Zwar ist das befürchtete Chaos an den Grenzen in den ersten hundert Tagen ausgeblieben, die Belieferung des Landes funktioniert auch so. Doch werden die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts bisher von der Coronakrise überdeckt.
In der Handelsstatistik finden sich bereits die ersten Spuren: Laut Statistischem Bundesamt brachen die britischen Exporte nach Deutschland im Januar und Februar um 39,6 Prozent ein. Die deutschen Exporte ins Königreich gingen um 20,5 Prozent zurück. Was davon Corona und was dem Brexit geschuldet ist, ist schwer zu trennen. Da die deutschen Exporte insgesamt nur um 4,5 Prozent zurückgegangen sind, scheint der Brexit eine große Rolle zu spielen.
Positives haben britische Unternehmen jedenfalls noch nicht berichtet. Stattdessen stöhnen sie über die Bürokratie und die Kosten. Viele kleine Unternehmen auf beiden Seiten haben den Handel über den Ärmelkanal eingestellt. Die Londoner City hat den EU-Aktienhandel an Amsterdam verloren. Doch insgesamt hält sich die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Grenzen.
Nordirland bleibt ungelöstes Problem
Eine bessere Einschätzung des Brexit-Effekts wird erst nach dem Ende des Lockdowns möglich sein. Die unabhängige Haushaltsbehörde in Großbritannien schätzt, dass er langfristig vier Prozentpunkte Wachstum kosten wird.
Bereits sichtbar sind die politischen Kosten. Auf der Plus-Seite kann Johnson den Impferfolg verbuchen, den das Land als EU-Mitglied wohl nicht erlebt hätte. Auf der Minus-Seite ist das Verhältnis mit der EU auf einen neuen Tiefpunkt gesunken. Im Streit um Impfstoffe und Grenzkontrollen ist deutlich geworden, wie wenig man sich noch über den Weg traut. Ein Ende der gegenseitigen Provokationen ist nicht in Sicht.
Das größte ungelöste Problem ist Nordirland. Die Krawalle der vergangenen Tage hatten zwar mehrere Ursachen, aber der Brexit erhöht zweifellos die Spannungen in der früheren Bürgerkriegsprovinz. Johnson persönlich hat die umstrittene Zollgrenze in der Irischen See durchgesetzt, weil Großbritannien nicht in Binnenmarkt und Zollunion bleiben sollte. Es könnte sich als seine größte Fehlentscheidung erweisen, denn eine Vereinigung Irlands scheint nur noch eine Frage der Zeit. Dann ist Johnson allerdings schon nicht mehr im Amt.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.