Kommentar Konzerne müssen Hoffnungswerte in ihren Bilanzen transparent machen

Lange Zeit eine der stärksten Aktien im Dax, weil sich der Konzern im richtigen Moment in die richtigen Technologien einkaufte.
Es war wie im Märchen. Die Aktie des Reifenherstellers entfaltete Potenzial, weil sich der Gummiverarbeiter zu einem technologisch anspruchsvollen Zulieferer für elektronische Antriebssysteme entwickelte. Dafür kaufte er kräftig andere Firmen zu, unter anderem von Motorola, Temic (früher Daimler) und für 11,4 Milliarden Euro VDO von Siemens.
Die Erfolgsstory stimmte fast ein Jahrzehnt lang: Continental war eine der stärksten Aktien im Dax, weil sich der Konzern im richtigen Moment in die richtigen Technologien einkaufte. Doch die Freude darüber war nicht von Dauer. Kauft ein Unternehmen ein anderes, muss das Management das Vermögen des Neuerwerbs rechnerisch in Einzelteile zerlegen. Ob Maschinen, Fuhrpark, Grundstücke, Patente oder Kundenkontakte – jede Position wird bewertet.
Fällt der Kaufpreis für die neue Firma höher aus, als alle Einzelteile zusammengerechnet wert sind, so wird diese Übernahmeprämie als Hoffnungswert, auf Englisch „Goodwill“, in der Bilanz verbucht. So wuchs der Goodwill-Posten bei Continental auf mehr als sieben Milliarden Euro.
Dann kam die Technologiewende – weg vom Verbrennungsmotor und hin zu Elektroantrieb. Viele Zukäufe Continentals erwiesen sich plötzlich nicht mehr als so wertvoll wie zuvor. Die Folge: Continental musste einen Teil seiner Aufpreise für die einstigen Neuerwerbungen abschreiben. Das führte im Geschäftsjahr 2019 zu einem Nettoverlust von gut einer Milliarde Euro. Weitere Abschreibungen und damit Verluste werden folgen, je rascher die Automobilindustrie sich neu erfindet.
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Doch Continental ist mit seiner Einsicht in das Unabänderliche die Ausnahme. Durch überteuerte Zukäufe haben die 30 Dax-Unternehmen 316,6 Milliarden Euro an Goodwill angehäuft, also an Hoffnungswerten aus zu teuren Firmenkäufen, die keinen materiellen Gegenwert haben. Diese Rekordbelastungen werden in der Krise zu einem Milliardenrisiko. Sinkt nämlich die Nachfrage auf längere Sicht oder rechnen sich Geschäftsmodelle nicht mehr, werden Abschreibungen notwendig.
Das Bilanzrisiko entwickelt seine Sprengkraft besonders jetzt in der Krise, weil die Diskrepanz nun am größten ist zwischen den tatsächlichen Erlösen der teuer erworbenen Firmen und den ursprünglichen Annahmen.
Eine prozyklische Milliardenfalle. Aber es gibt einen Ausweg. Früher wurden die Aufpreise von zu teuer erworbenen Firmen innerhalb von zehn Jahren planmäßig abgeschrieben. Dahinter steckte die Überlegung, dass alle neuen Techniken nach zehn, spätestens 20 Jahren überholt sind und durch neue ersetzt werden – und dass sie sich deshalb nicht mehr rechnen.
2005 wurde diese Regel in Deutschland abgeschafft. In der von der Wall Street geprägten Finanzwelt hat sich der IFRS-Standard durchgesetzt: Die starren Abschreibungsregeln wurden ersetzt durch zeitnahes Bewerten der Neuerwerbungen.
Mehr Transparenz wäre besser
In der Praxis führte dies dazu, dass Unternehmen so gut wie nichts mehr abschreiben. Seit 2005 waren es bei den 30 Dax-Konzernen im Durchschnitt 3,5 Milliarden Euro pro Jahr. Das bedeutet: Bei einem Goodwill-Bestand von aktuell 316,6 Milliarden Euro ergibt sich eine rechnerische Nutzungsdauer für die Anlagen von fast 100 Jahren. Das widerspricht der Realität, zumal sich die Welt immer schneller fortentwickelt.
Die alte Zehnjahresregel nach dem Handelsgesetzbuch (HGB) mag zu kurz und zu starr sein. Auch berücksichtigt sie nicht die Realität vieler Branchen. Vor allem Technologie- und Pharmaindustrie investieren kaum in Maschinen oder Fuhrparks, sondern mehr in geistiges Eigentum, Design, Marken und Patente. Deren Wert ist nach Zukäufen bilanziell kaum erfassbar, und doch sind es die wichtigsten Werte – man denke nur an Konzerne wie Google, Facebook und Apple.
Bisweilen entspricht fast der gesamte Kaufpreis dem Goodwill. Ihn komplett in einem bestimmten Zeitraum abzuschreiben widerspricht der (Technologie-)Wirklichkeit. Doch all diese berechtigten Einwände rechtfertigen es nicht, so gut wie gar nichts mehr abzuschreiben.
Besser wäre mehr Transparenz. Bislang ist es so, dass Unternehmen sich mindestens einmal im Jahr durch Wirtschaftsprüfer einem Test der Werthaltigkeit unterziehen. Ist sie nicht mehr gegeben, wird abgeschrieben. So wie bei Continental. Das Manko daran ist: Für Aktionäre und Außenstehende ist dieser Test nicht einsehbar – auch nicht in Grundzügen.
Abhilfe würde ein für Anteilseigner einsehbarer und in der Bilanz veröffentlichter Test schaffen, in dem alle Zukäufe, für die Unternehmen mehr als nur den rechnerischen Preis bezahlt haben, auf ihre Tauglichkeit und ihren zeitnahen Marktwert überprüft werden.
Allein die Transparenz, die es bislang nicht gibt, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu regelmäßigen und marktgerechteren Abschreibungen führen und verhindern, dass es in Krisenzeiten zu extremen Abschreibungswellen kommt. Und: Transparenz würde auch dem Verdacht auf Absprachen zwischen Management und Wirtschaftsprüfern einen Riegel vorschieben.
Mehr: Die 317-Milliarden-Euro-Blase: Hoffnungswerte belasten Bilanzen der Dax-Konzerne
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