Kommentar Leben mit Corona: Die Lockerungen stellen ein vertretbares Risiko dar

Viele Menschen nutzen die Lockerungen der wochenlangen Ausgangsbeschränkungen.
Berlin Die weitreichenden Lockerungspläne kamen plötzlich. Fast so plötzlich wie die Entscheidung im März, das Coronavirus mit beispiellosen staatlichen Freiheitsbeschränkungen zu bekämpfen. Auch wenn die Bundeskanzlerin wohl lieber abgewartet hätte, vorpreschende Ministerpräsidenten ließen ihr keine Wahl.
In diesen Tagen öffnet sich die Republik, und manche fragen argwöhnisch, ob Deutschland für diese Schritte bereit sei. Eigentlich müsste die Frage aber lauten: Warum sollte Deutschland nicht dafür bereit sein?
Zunächst ist die Rücknahme verfassungsrechtlich geboten. Zunehmend schalten sich die Gerichte ein. Es gilt das Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bei Eingriffen in die Grundrechte ist der Staat angehalten, das mildestmögliche Mittel zu wählen.
Ein wichtiger Indikator für das Infektionsgeschehen ist der R-Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter im Mittel ansteckt. Nachberechnete Daten des Robert Koch-Instituts zeigen, dass R schon seit dem 21. März an den meisten Tagen unter eins liegt, auch wenn er gerade etwas angestiegen ist. Die Epidemie schwächte sich in Deutschland also bereits ab, bevor die drastischen Einschränkungen zwei Tage später erlassen wurden.
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Die politische Entscheidung für den gewählten Weg war angesichts der damals noch unübersichtlicheren Lage nachvollziehbar. Das Getöse der Verschwörungstheoretiker läuft daher ins Leere.
Natürlich spielen auch andere Faktoren bei der Bewertung des Infektionsgeschehens eine Rolle, es gibt außerdem ein Dunkelzifferproblem. Doch wenn man den R-Wert als bedeutenden Maßstab akzeptiert, ist davon auszugehen, dass mildere Maßnahmen, gepaart mit verantwortungsvollem Verhalten eines Großteils der Bevölkerung, bereits eine Eindämmung ermöglichten. Der Ausbruch des Virus ist zudem durch lokale Herde gekennzeichnet, es gibt klar benennbare Risikogruppen. Eine differenzierte Strategie war längst überfällig.
Öffnungsskeptiker führen die Gefahr einer zweiten Welle an, und niemand kann das ausschließen. Das deutsche Gesundheitssystem hat seine Stärke im internationalen Vergleich aber schon bei der ersten Welle bewiesen. Die Test- und Intensivkapazitäten wurden weiter erhöht, Gesundheitsämter zur Nachverfolgung von Infektionsketten gestärkt. Zwar soll die Corona-App erst im Juni kommen. Doch die ist kein Allheilmittel, sondern eine Erweiterung des Instrumentenkastens.
Die Alternative zur Öffnung wäre, die Übertragung des Virus weiter mit harten Maßnahmen zu unterdrücken, bis irgendwann ein Impfstoff zur Verfügung steht. Lässt sich das überhaupt durchhalten? Wir müssen lernen, mit dem Coronarisiko zu leben. Die Voraussetzungen dafür in Deutschland sind gut.
Mehr: Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronakrise in unserem Liveblog.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.