Kommentar Merkel muss bei der Grundrente sagen, was sie will

Die Kanzlerin steht beim Streit der Koalitionsfraktionen über den Grundrenten-Entwurf bisher an der Seitenlinie.
Das Regierungshandeln der Physikerin Angela Merkel kennt zwei Aggregatzustände: Die Kanzlerin beweist in Krisenzeiten Präsenz und Führungswillen. Liegt dagegen weitgehende Normalität über dem Land, zeigt Merkel einen wässrigen Politikstil. Sie lässt Dinge zerlaufen, bleibt so lange wie möglich im Ungefähren.
Vergangenes Jahr haben Physiker der Universität Edinburgh herausgefunden, dass eine Materie unter extremen Temperatur- und Druckverhältnissen zeitgleich in fester und flüssiger Form existieren kann.
Auch in Merkels Kanzlerschaft treten die Aggregatzustände mitunter simultan auf: Während die Krisenkanzlerin in der Corona-Pandemie zupackt, vermeidet sie im Regierungsgeschäft derzeit klare Ansagen beim Thema Grundrente.
Selbstverständlich erfordert das Virus viel mehr Aufmerksamkeit als die geplante Aufwertung der Rentenansprüche von langjährigen Geringverdienern. Aber immerhin war die Grundrente noch vor wenigen Monaten wichtig genug für nächtliche Krisensitzungen und Spekulationen über ein Ende des Regierungsbündnisses. Der Konflikt zwischen Union und SPD kocht im Bundestag wieder hoch, und Merkel schweigt.
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Die Kanzlerin hat sich Anfang des Jahres persönlich dafür eingesetzt, dass der Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) durch das Kabinett kommt. Merkel richtete ein Machtwort an die Unzufriedenen in der eigenen Partei, die mit der sozialdemokratisch geprägten Grundrente haderten.
Heil vertritt daher zurecht die Auffassung, dass sein Entwurf keine Forderung der Sozialdemokraten mehr ist, sondern die Position der Bundesregierung. Und damit auch die Position von Merkel.
Die Antwort wird ungemütlich
Die Passage zur Grundrente im Koalitionsvertrag ist voller Widersprüche, die das Projekt von Beginn an behinderten. Heils Entwurf ist folglich ein schiefes Gebilde, das gegensätzliche Vorstellungen von Union und SPD in Einklang zu bringen versucht.
Ein politischer Kompromiss, der sich in der Praxis allerdings nur schwer umsetzten lässt. Darauf hat die Rentenversicherung immer wieder hingewiesen. Die Details der Finanzierung stehen ebenfalls nicht, obwohl die CDU das im Dezember in einem Parteitagsbeschluss zur Bedingung gemacht hat. Die Kanzlerin hat das Gesetz trotzdem durchgewunken.
Die Probleme, die Merkel zur Seite schob, tauchen im parlamentarischen Verfahren wieder auf. Die Union rebelliert im Bundestag gegen den Kabinettsbeschluss, selbst Sozialpolitiker von CDU und CSU halten die aktuelle Fassung nicht für zustimmungsfähig. Die SPD verliert dagegen zunehmend die Geduld.
Merkel muss ihre flüssige Haltung bei der Grundrente dringend verfestigen. Steht sie hinter dem Kabinettsbeschluss? Die Antwort wird auf jeden Fall ungemütlich. Entweder bringt die Kanzlerin die Union im Bundestag auf Linie und düpiert damit erneut Fraktionschef Ralph Brinkhaus, der zuvor schon zwei Mal erfolglos einen Widerstand gegen die Pläne von Heil anzuzetteln versuchte. Oder sie riskiert einen Konflikt mit dem Koalitionspartner, der die Bundesregierung mitten in der Coronakrise destabilisieren könnte.
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