Kommentar: Merz übt sich in der Kunst des Machbaren


Friedrich Merz geht in die Offensive. Zwei Talkshow-Auftritte in zwei Tagen – zuerst bei Caren Miosga im Ersten, dann bei Pinar Atalay auf N-TV: Der Kanzler sucht den direkten Draht zu den Bürgern. Offenbar ist die Not groß. Die Umfrageergebnisse sind mies, nur 28 Prozent der Bürger sind zufrieden mit der Arbeit der Regierung. Doch Merz duckt sich nicht weg, er zeigt Initiative und stellt sich den Fragen der Journalistinnen.
Was Ökonomen seit Langem vorhergesagt haben, ist eingetreten: Deutschland, insbesondere die Industrie, ist längst über ihre Belastungsgrenze hinaus. Aus dem Außenkanzler, der in Europa und den USA für Wettbewerbsfähigkeit warb, ist deshalb ein Wirtschaftskanzler geworden, der um Vertrauen und Reformwillen im eigenen Land wirbt.
Schon in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit forderte Merz einen „Neustart für Deutschland“ – nicht als Schlagwort, sondern als Aufruf zur Ehrlichkeit. Der Jobabbau in großen deutschen Unternehmen wie Bosch oder Thyssen-Krupp verdeutlicht: Es geht jetzt um die Substanz des Landes.
Als erfahrener Wirtschaftsmann sollte Merz das Land modernisieren, die Wirtschaft entlasten, die Sozialkassen sanieren. Die Erwartungen waren riesig nach seinem Amtsantritt. Fünf Monate später gibt die Wirtschaft zu Recht keine Ruhe mehr und drängt auf Reformen. Er selbst hätte sich vorstellen können, manche Entscheidungen früher zu treffen, räumte Merz am Montagabend ein.
Doch Merz, das ist sein großer Schwachpunkt, kann nicht all-in gehen. Die Große Koalition lässt kein Basta zu. Obwohl die Zusammenarbeit nicht einfach sei, wie Merz sagt, würden Union und SPD zusammenfinden. Spätestens kommende Woche soll es erste konkrete Vorschläge für eine neue Grundsicherung geben. Wer nicht arbeiten will und Termine beim Jobcenter schwänzt, solle Konsequenzen spüren.
Kein Verbrenner-Verbot ab 2035
Merz schätzt die dramatische wirtschaftliche Lage richtig ein, vor allem die der Autoindustrie. Kurz vor einem für Donnerstag angesetzten Treffen im Kanzleramt zur Lage der Autobranche spricht er sich auch deshalb erneut gegen das Verbot neuer Autos mit Verbrennermotor in der EU aus, auch wenn der SPD-Umweltminister dieses befürwortet.






Am Ende muss der Kanzler den Ausgleich mit der SPD suchen, ohne das eigene Profil zu verlieren. Er bereitet die Bürger auf notwendige Ausgaben für Rente, Pflege und Gesundheit vor – unbequeme Wahrheiten, die Merz aussprechen muss, auch wenn sie für seine eigenen Beliebtheitswerte sicher nicht gut sind.
Doch Deutschland braucht in dieser Phase keinen Basta-Kanzler, dem der ganze Laden um die Ohren fliegt. Es braucht einen Regierungschef, der mit ruhiger Hand führt und sich in der Kunst des Machbaren übt.
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