Kommentar: Nach dem Washington-Eklat ist die Zeit der Selbstbeschwörungen vorbei


Der Philosoph Karl Popper lehrte, dass es vor allem auf unsere Institutionen ankommen sollte, nicht auf den Charakter des politischen Führungspersonals. Institutionen müssten so gestaltet sein, dass einzelne Personen keinen allzu großen Schaden anrichten könnten, so Popper.
Nun sind es gerade die USA, die älteste Demokratie der Moderne, die der Welt vor Augen führen, dass der Weg dorthin noch sehr weit ist. Wohl selten hat ein Individuum in kürzester Zeit größeren Schaden angerichtet als Donald Trump. Der jüngste Eklat zwischen ihm und Wolodymyr Selenskyj in Washington ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Präsidentschaft, die erst vor fünf Wochen begann – und schon jetzt eine Spur der diplomatischen Verwüstung hinterlassen hat, die selbst die größten Kritiker Trumps nicht erwartet hätten.
Der provozierte Streit zwischen dem US-Präsidenten und seinem ukrainischen Amtskollegen auf offener Weltbühne ist der klare Beweis, wo der Anführer der westlichen Führungsmacht zu verorten ist: auf der Seite des imperialistischen Geschichtsrevisionisten Wladimir Putin.
Anders als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Premier Keir Starmer, die Trump im Oval Office schmeichelten, gar tätschelten, um ihn gnädig zu stimmen, zeigte der Kriegspräsident Selenskyj Haltung. Er widersprach, woraufhin Trump und sein Vize, der Erfüllungsgehilfe J.D. Vance, ihn als Bittsteller, der einen „dritten Weltkrieg“ riskiere, abkanzelten.
Trump braucht Selenskyj als Sündenbock
Ob es aus Sicht Selenskyjs klug war, so zu agieren, ob er gar in die Falle getappt ist, die Trump ihm stellte, ist am Ende irrelevant. Das perfide Kalkül des Präsidenten war es offensichtlich von Beginn an, Selenskyj als Sündenbock zu präsentieren, der einfach keinen Frieden wolle. Dabei schreckt Trump nicht einmal davor zurück, Kiew die Verantwortung für den Krieg zuzuschieben und zu ignorieren, dass es nur einen gibt, der kein Interesse an einem Frieden hat, der nicht einem Moskauer Diktatfrieden gliche: Wladimir Putin.
Fest steht: Trump betreibt jetzt offen das Geschäft des Kriegsherrn im Kreml. Es handelt sich nicht nur um ein Zerwürfnis zwischen den USA und der Ukraine, es handelt sich auch um einen endgültigen Bruch des US-Präsidenten mit jener Strategie, über die der Westen bislang weitgehend einig war: die Ukraine über Waffenlieferungen in die Lage zu versetzen, auf Augenhöhe mit Moskau zu verhandeln.
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Die großen europäischen Staaten werden sich jetzt entscheiden müssen, ob sie die Ukraine mit aller Kraft unterstützen und das amerikanische Engagement ersetzen oder ob sie sich darauf konzentrieren, die Ostgrenze der Nato zu sichern. Durchhalteparolen, Selbstbeschwörungen oder Solidaritätsbekundungen an Kiew helfen nicht weiter. Die Zeit der Naivität ist vorbei.
Europa ist geschockt, wahrscheinlich nicht nur von dem selbstsüchtigen Agieren des Dealmakers im Weißen Haus, sondern auch von dem eigenen Versagen. Jetzt dürfte auch dem letzten Transatlantiker klar sein, wie fahrlässig es war, die Solidarität der USA mit Europa als selbstverständlich anzunehmen. Nun ist die Dimension der Versäumnisse klar, die sich die Europäer leisteten, indem sie die vier Jahre unter US-Präsident Joe Biden verstreichen ließen, ohne wirklich ernsthafte sicherheitspolitische Konsequenzen zu ziehen. Es zeigt sich, wie recht schon Barack Obama und eben auch Trump damit hatten, dass Europa sich selbst um seine Sicherheit kümmern muss.
Die Europäer werden – und das nicht unverdient – mit brachialer Gewalt zur Vernunft gebracht. Denn es geht in diesen Tagen um alles, auch um die Frage, wie glaubwürdig die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrags noch ist.

Sicherheitspolitik ist nun das Maß aller politischen Dinge. Ein europäischer Friedensplan, wie jetzt beim Londoner Treffen skizziert, wird auch daran scheitern, dass Moskau überhaupt kein Interesse an einem Frieden hat, erst recht nicht bei der derzeitigen militärischen Lage und mit der Aussicht darauf, dass die USA ihre Unterstützung einstellen.
Es geht jetzt darum, eine Verteidigungsallianz zu bilden, die erstens die Ukraine in größerem Umfang als bisher mit Waffen unterstützt und zweitens den europäischen Nato-Flügel so stärkt, dass er Abschreckung gewährleisten kann – notfalls auch ohne die USA. Diese Verteidigungsallianz gilt es, zusätzlich und neben den bisherigen Institutionen wie Euro-Zone oder europäischer Binnenmarkt, als eigenständige Institution zu gründen. Die Atommacht Großbritannien ist mit ihrer großen außen- und sicherheitspolitischen Tradition ebenso unverzichtbar wie ein Ungarn, das innerhalb der EU als fünfte Kolonne Moskaus agiert.
Die Hauptverantwortung zur Bildung einer solchen Verteidigungsallianz trägt Friedrich Merz, der Kanzler im Wartestand. Deutschland erlebt zwar eine tiefe Wirtschaftskrise, ist aber immer noch die einzige Volkswirtschaft, die über die finanziellen und industriellen Kapazitäten verfügt, um die Zeitenwende in konkrete politische Projekte zu verwandeln. Die Aufstockung des Sondervermögens um 200 Milliarden Euro, die der alte Bundestag wahrscheinlich noch beschließen wird, ist die notwendige Voraussetzung für ein solch historisches Projekt, aber längst keine hinreichende.
Zunächst allerdings ist die Ukraine die erste Verteidigungslinie. Selenskyj sah sich gezwungen, nach Washington zu reisen und einen erpresserischen Rohstoffdeal zu unterzeichnen, um nicht auch noch den Rest an US-Unterstützung zu verlieren. Trump hatte bereits im Vorfeld der Verhandlungen wichtige Positionen wie einen Nato-Beitritt der Ukraine oder US-Sicherheitsgarantien abgeräumt. Die Tatsache, dass demnächst amerikanische Konzerne wertvolle Rohstoffe vor Ort abbauen, sollte als Garantie genügen.
Auch wenn der Rohstoffdeal nach dem Fiasko im Oval Office nicht unterschrieben wurde: Trumps Forderung danach ist grotesk und markiert den feinen Unterschied zwischen intelligenter, langfristig angelegter Diplomatie und auf den kurzfristigen Profit zielendes Deal-Making.

Die Deal-Diplomatie Trumps wird der Ukraine mit Sicherheit keinen Frieden bringen, aber Europa möglicherweise einen Krieg, der weit über die jetzige Ukraine hinausgeht.






Es ist ebenso wenig eine Floskel, dass die Ukraine unsere Freiheit verteidigt, wie dass die freie Welt ihren Anführer verloren hat. Trump stellt nicht nur die von den USA etablierte und garantierte Weltordnung infrage. Er will die Welt – samt Europa – nach einer ultranationalistischen und autoritären Vision umgestalten.
Der Westen als normatives Projekt, wie ihn der Historiker Heinrich-August Winkler beschrieb, hat in dieser Vision keinen Platz mehr. Auch wenn Europa derzeit nicht annähernd den Eindruck macht, als sei es im Entferntesten in der Lage, das Vakuum, das Amerika hinterlässt, zu füllen: Es bleibt keine andere Wahl, als es zu versuchen.






