Kommentar: Ob es zum Boom kommt, entscheiden die amerikanischen Verbraucher

Auf die US-Verbraucher war jahrzehntelang Verlass: Wenn die Weltwirtschaft stotterte, waren es meist die Amerikaner, die mit ihrer Konsumfreude den Konjunkturmotor wieder auf Touren brachten. Auch jetzt setzen die meisten Ökonomen darauf, dass die immer noch größte Volkswirtschaft den Rest der Welt aus der Schockstarre der Pandemie reißt.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnet nach ihrer neuesten Prognose mit einem globalen Wachstum von 5,6 Prozent in diesem Jahr. Das wäre die stärkste wirtschaftliche Erholung seit fast 50 Jahren. Angetrieben wird der globale Aufschwung durch ein Wachstum von 6,5 Prozent in den USA und fast acht Prozent in China.
Ob es zu einem solch märchenhaften Boom kommt, entscheiden erneut die amerikanischen Verbraucher, die während der Pandemie rund 1,5 Billionen Dollar mehr auf die Seite gelegt haben als zu normalen Zeiten. Ergießt sich diese Sparschwemme in die Weltwirtschaft, könnte die Konjunktur sogar überhitzen und Inflation erzeugen. In diesem Fall könne die US-Wirtschaft in diesem Jahr sogar um bis zu neun Prozent wachsen, sagen die Wirtschaftsforscher des Finanzdienstleisters Bloomberg Economics voraus.
Bleiben die Konsumenten in den USA nach dem Jahrhundertschock jedoch vorsichtig und tilgen ihre Schulden, statt sich in einen Kaufrausch zu stürzen, bleibt auch das 1,9 Billionen Dollar große US-Konjunkturprogramm von US-Präsident Joe Biden nur ein konjunkturelles Strohfeuer. Aus den neun Prozent könnten dann nach Schätzungen der Bloomberg-Experten schnell zwei Prozent und eine bittere Enttäuschung werden.
Starke Erholungsphasen sind nach einem Absturz der Konjunktur wie im vergangenen Jahr nicht ungewöhnlich. Insbesondere dynamische Volkswirtschaften wie die USA erwachen nach einer Rezession meist schneller wieder zum Leben als zum Beispiel die von Strukturschwächen geplagte Euro-Zone, für die die OECD in diesem Jahr nur ein Wachstum von knapp vier Prozent voraussagt.
Das Wirtschaftswachstum in den USA hängt zu etwa 70 Prozent vom privaten Verbrauch ab. In der EU sind es nur etwa 50 Prozent. Mehr als sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) haben die Amerikaner während des Lockdowns zusätzlich gespart. Die persönliche Sparquote, die langfristig im Durchschnitt in den USA bei unter zehn Prozent liegt, stieg zeitweise auf über 30 Prozent.
Auch die Deutschen haben in den vergangenen zwölf Monaten mehr auf die hohe Kante gelegt als sonst: Nach Berechnungen von Bloomberg waren es gemessen am BIP etwa 4,3 Prozent zusätzlich. Ein Polster von immerhin 143 Milliarden Euro, um gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gewappnet zu sein.
Zwar hat der Arbeitsmarkt in Industrieländern wie Deutschland oder Großbritannien der Coronakrise dank Kurzarbeit weitgehend standgehalten. Hierzulande beziehen immer noch rund 2,4 Millionen Menschen Kurzarbeitergeld.
In den USA hat die Regierung die finanziellen Einbußen der Privathaushalte durch direkte Finanzhilfen abgefedert. Die von Biden jetzt auf den Weg gebrachte Konjunkturspritze verliert aber in den nächsten Monaten sukzessive ihre Wirkung. Und auch die großzügige Kurzarbeiterregelung hat die Bundesregierung nur bis Jahresende verlängert.
Ob aus dem Sparpolster der Verbraucher eine Sparschwemme für die Wirtschaft wird, hängt deshalb vor allem davon ab, ob die Regierungen in den Industrieländern die Pandemie durch Massenimpfungen bis zum Sommer in den Griff bekommen.
Der Einzelhandel, Restaurants, die Unterhaltungsindustrie und der Tourismus – all diese Branchen können nur wieder florieren, wenn das Virus unter Kontrolle gebracht wird. Erst dann werden auch die Verbraucher ihre Geldbörsen öffnen und mit der aufgestauten Konsumfreude das Zwangssparen während der Pandemie hinter sich lassen. Auch die OECD erwartet dann einen Konsumschub.
Allein auf eine globale Sparschwemme sollten sich die Regierungen jedoch nicht verlassen. Da die Konsumquote mit wachsendem Einkommen abnimmt, kommt es vor allem darauf an, die Einkommen der wirtschaftlich schwächeren Haushalte zu stabilisieren.
Bidens direkte Finanzhilfen zielen deshalb zu Recht vor allem auf die Mittelschichten, die tendenziell einen Großteil ihres verfügbaren Einkommens für den Konsum ausgeben müssen und von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie am härtesten getroffen wurden.






In Europa und Deutschland verlässt man sich bislang lieber auf das Kurzarbeitergeld und steuerliche Erleichterungen. Das ist ein Fehler. Wollen die Europäer verhindern, dass die angesparten Gelder aus der Pandemie als Sicherheitspolster dauerhaft der Wirtschaft entzogen bleiben, sollten sie ihren wirtschaftspolitischen Werkzeugkasten erweitern.
Die OECD-Chefökonomin Laurence Boone fordert im Handelsblatt-Interview zielgenaue Hilfen für jene Arbeitnehmer zum Beispiel aus dem Tourismus oder der Luftfahrt, deren Jobs womöglich auch nach der Coronakrise nicht zurückkommen. Eine gute Idee.
Mehr: Weltwirtschaft wird 2021 laut OECD kräftig wachsen – unter einer Bedingung





